Römers Reich: Die Mythen der Demokratie
Der Wähler übersieht oft die Zusammenhänge. Komplexe politische Prozesse bleiben seiner schlichten Urteilsfähigkeit verschlossen. Man sollte solchen Politiker-Erkenntnissen stets dann folgen, wenn sich Bürgerzorn in populistische Einfachformeln ergießt. Der Gerechtigkeit wegen müssten Politiker mit ihren Stimmengebern jedoch mehr Nachsicht walten lassen. Wenn zu einer Wahl, wie der zum Europäischen Parlament, Spitzenkandidaten aufgestellt werden, die nach der Wahl keine Spitzen mehr sind, darf man sich nicht wundern, dass sich Menschen angepiekt fühlen.
Wenn dann aus allen Abstimmungsprozessen paradoxerweise weder ein Weber noch ein Timmermans, sondern eine Ursula von der Leyen aus dem Hut gezaubert wird, um das Erbe von Jean-Claude Juncker anzutreten, ist die David-Copperfield-Demokratie perfekt.
Genau dann klingen die beschwörenden Warnungen von Demokraten zum Schutz der Demokratie wie Sirenen aus der griechischen Mythologie, die der Erzählung nach mit betörendem Gesang Menschen anlockten, um sie zu töten. Um im Bild der griechischen Mythen zu bleiben, könnte man mit der Besetzung der EU-Kommissionsspitze den Mythos vom kretischen Stier aufleben lassen. Den hatte Poseidon dem Minos als Zeichen gesandt, dass dieser König werden solle. Als Minos das schöne Tier dem Gott jedoch nicht opfern will, lässt Poseidon Minos Frau in Liebe zu dem Tier verfallen. Entsprechend möchte man ausrufen: So ward die deutsche Ursula von allen Regierungschefs plötzlich geliebt und in den Europäischen Olymp gehoben. Wer in diesem demokratischen Vorgang eine Beförderung der bisherigen Bundeswehrchefin vermutet, die sich um millionenschwere Beraterverträge, besondere Fürsorge soldatischer Einsatzgeräte als auch für preisgünstige Segelschiffsreparaturen verdient gemacht hatte, muss die ganze Geschichte des kretischen Stiers kennen: Minos, vom Stierangetan, versteckte ihn in seiner Herde und opferte Poseidon stattdessen eines seiner Tiere. Der Gott im Zorn über Minos lässt sich dessen Gemahlin Pasiphae dem Stier hingeben. Aus diesem Techtelmechtel entstand Minotauros. Zudem wurde der kretische Stier von Poseidon mit Raserei geschlagen, wodurch er große Verwüstungen auf Kreta anrichtete.
Es könnten also die Götter bei allem ihre Hand im demokratischen Spiel haben. Geboten wäre in diesem Fall, dassPolitiker ihre göttlich geführten Hände und den olympischen Einfluss bekennten. Es könnte sonst ein weiteres demokratisches Paradox sichtbar werden, nämlich, dass Wähler einer von höherer Macht geführten Demokratie den Rücken kehren wollten, um sich göttlichen Fügungen zu entziehen und sich einer irdischen Lenkung zu unterwerfen. Göttern ist selten zu trauen, vor allem wenn sie große Wunder vollbringen und Menschen als verdienstvolle Erlöser auf den Thron setzen.