Langsamer Leser: Zorn in Zeiten moralischer Masturbation

Es ist Freitag früh, 5 Uhr. Der Freitag vor der Meile der Demokratie. Normalerweise ist es mein Bier, wann ich einen Text schreibe. Bei diesem ist der Termin wichtig. Meine Frau und ich haben gerade eine Stunde bei Kaffee und Gespräch den Tag beginnen lasen. Sie wird erst nach Mitternacht wieder nach Hause kommen. Deshalb ist uns dieses Morgenritual wichtig. Ich werde am nächsten Tag im Bus der Stadtbibliothek lesen und mich am Abend zum Neujahrsempfang der Stadt Möckern unbeliebt machen, weil ich darauf aufmerksam machen will, dass eine der Ursachen des Verfalls des gesellschaftlichen Konsenses die Zuweisung von kulturellen Aufgaben als freiwillige Aufgaben der Kommune ist. Mit anderen Worten: Für Kunst, Kultur, Bildung muss der Stadtrat kein Geld vorhalten, es sei denn, man feiert als Kulturschaffender das gerade stattfindende Jubiläum. Da ist die Qualität des Gebotenen zweitrangig. Sie merken: Er wird langsam zornig.

Was mir aber die Galle überlaufen lässt, sind zwei Ereignisse, die so gar nichts miteinander zu tun haben: Der Rückzug von wichtigen Partnern bei der Meile der Demokratie und diese versemmelte Regierungsbildung. Beides scheint mir eher eine gemeinsame Ursache zu haben: In den Zeiten der maßlosen Selbstverwirklichung ist Solidarität ein unverständliches Fremdwort, das man mit Hinweis auf eine undemokratische Tradition auch bequem aus dem eigenen Spielfeld kicken kann. Auch da kann man sich ein moralisches Mäntelchen umhängen, um nicht tiefer bohren zu müssen.

Im Stadtkalender ist mir der Termin um die Meile der Demokratie, als eine Aktion, die mit der Geschichte der Stadt, der Erinnerung an die Bombennacht 1945, zu tun hat, über die Jahre einer der wichtigsten Termine geworden. Der Besuch dieser Aktion scheint mir nach wie vor zu bestätigen, dass es nicht nur ein Termin der Akteure ist. Über eine Verlegung in den Sommer nachzudenken, ist eine dieser Aktion nicht gemäße Überlegung und erinnert mich eher an die Fragstellung: Wie kriegen wir es hin, aus diesem Termin ein fröhliches, eher unpolitisches Event zu machen? Kein Interesse. An einer solchen Veranstaltung habe ich kein Interesse.

Dass aber wichtige Akteure wie Miteinander e.V. und der Paritätische Wohlfahrtsverband sich zurückziehen, weil die AfD präsent sein will, da ist bei mir jegliche Toleranz am Ende. Der SPD-Landtagsabgeordnete Andreas Steppuhn kommentiert den Rückzug des Vereins in der Volksstimme: „Es ist völlig logisch, dass es Organisationen und Vereine gibt, die nichts mit Rechtsextremen zu tun haben wollen. Auch das sind demokratische Entscheidungen.“  Nein, das ist Feigheit vor dem Feind. Herr Begrich, würde ich da fragen, in welchen Winkel wollen Sie sich denn verkriechen, wenn die AfD einen öffentlichen Raum nach dem anderen besetzt? Haben Sie dem nichts entgegenzuhalten? Oder haben Sie alle Angst, mein Verdacht, dass Sie Ihr integres moralisches Läppchen, dass man heute gern vor sich her trägt, bekleckern könnten? Über Jahre ist die Meile der Demokratie zu dem gewachsen, was sie heute bedeutet, hat sie diese unseligen, von den Rechten organisierten Gedenkmärsche für die Bombennacht abschaffen helfen – und jetzt sind Sie als die Mitbegründer dieser Aktion zu fein, sich noch zu beteiligen, weil die AfD das Gesamtbild bekleckert? Desgleichen der Paritätitsche Wohlfahrtsverband. Oder hieß er Wohlverhaltensverband? Mit gestriegelten Worten schäumt man auf, nein, man könne sich nicht gemein machen.

Es muss eine klinisch saubere Denkwelt sein, aus der solche Gedanken kommen. Aber sie wird nicht verhindern, dass die AfD stärker wird. Es ist ein für die demokratische Gesellschaft gefährlicher Weg, den die „sauberen Vereine“ da begehen, weil er die Räume größer macht, die sich die Rechten nehmen können. Das ist so dämlich wie die Rede unseres Stadtoberhauptes, der meint, man müsse über ein neues Format für die Meile der Demokratie nachdenken, weil das ursprüngliche Ziel, die Naziaufmärsche zu verdrängen, erreicht sei. Wenn der FC Magdeburg den Sprung in die nächste Liga geschafft hat, braucht er nicht weiter zu spielen oder überlegt, ob er jetzt nicht besser Handball spielen sollte? Ich erinnere nur, dass man in der Ära Böhmer (mit einem Wirtschaftsminister Haseloff) der Meinung war, dass man ja kein rechtsradikales Problem in Sachsen-Anhalt habe, darum auch die Vereine miteinander und menschenskinder nicht mehr in ihrer Arbeit in Schulen und Öffentlichkeit wie bisher gestützt werden müssten, weil damit ja nur Investoren erschreckt würden, die denken könnten, es gäbe ein solches Problem. Wie lange hat es gedauert, dass wir es hatten? Es ist ein alter Satz aus der Physik, Herr Dr. Trümper, der Ihnen da einfallen müsste, und das August Everding in seiner unnachahmlichen Art und Weise auf den Punkt brachte: „Ein Vakuum füllt sich immer – und sei es mit Mist!“ Oder wollen Sie dann das neue Format gegebenenfalls wieder zurückführen? Wer wäre dann der Blamierte?

Und dann haben wir ja da noch die ESSPEEDEE! Ich will mich noch ein letztes Mal mit ihr befassen, bevor sie bei den nächsten Wahlen bundesweit unter 14 Prozent rutscht (was ihr dann möglicherweise die Chance gibt, als stärkste Oppositionspartei die Führung des Haushaltsausschusses von der AfD zu übernehmen, weil die ja dann in einer Koalition mit einer von Jens Spahn und Alexander Dobrindt geführten Union andere Aufgaben zu übernehmen hat, am besten Innenministerium, Justizministerium und Verteidigungsministerium). Eine Partei, die den Messias mit 100 Prozent begrüßt (eine Zustimmungsrate, die meines Wissens nicht einmal unsere alten Genossen aufweisen konnten), um ihn nur ein Jahr später in die Eier zu treten. Haltlos nennt man das. Und Haltungslosigkeit ist die Folge. Zugegeben, der Messias macht es einem schwer, zu glauben, dass er es ist. Die christlichen Gemeinden können ein Lied davon singen. Herr Schulz aber hat bis auf das Gesicht eines ständig besorgten, jeglicher Freude abholten tiefprotestantischen Parteigenossen, dessen Leben nur noch aus reinem Pflichtgefühl besteht, wenig zu bieten. Ich meine Inhaltliches. Will sagen, für einen Katholiken macht er einen derzeit eher freudlosen Eindruck. Von so viel Lustlosigkeit will man doch nicht regiert werden. Er kann fünf Sprachen. Aber was hat man davon, wenn er die Lustlosigkeit auch noch in fünf Sprachen aussprechen kann? Und dann das Bild der Partei, das Gezeter, man müsse sich erst erneuern, bevor... Und wenn, dann nicht mit Angela Merkel... Und wenn, muss die Welt so sein, wie wir sie haben wollen… Und wenn, dann wäre Teneriffa schöner… Und außerdem müsse man sich erst erneuern… Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jungsozialisten: „Wir sind das Bollwerk gegen große Koalition.“ Ohne Blick auf die Weltlage (darf man den Sozialisten Sachsen-Anhalts auch bescheinigen, aber wer nimmt Aufregungen der Splitterpartei noch wahr?), nur die Lage der eigenen Partei im Blick, wird da keine Tür ins Nebenzimmer aufgestoßen: SPD first! Da wird dann von Glaubwürdigkeit geredet und der ganze moralische Schmus kommt aufs Tablett. Verantwortung für das Land? Wir hatten eine Kanzlerin, die international hoch angesehen war! Die demontieren wir dabei gleich mit. Da sind sich Medien und Politik ziemlich einig. Als ich zu Beginn der Ära Dorgerloh (wer kennt ihn noch?) im Kultusministerium Sachsen-Anhalts (als es so etwas noch gab) anlässlich der Absetzung des damaligen Chefs der Landeszentrale für politische Bildung und der wochenlangen Suche nach einem Nachfolger sagte, man solle doch eigentlich, wenn man mitten im Rennen das Pferd wechseln will, das neue zumindest schon mal aus dem Stall geholt haben, hieß es, dass ich nicht so zynisch sein solle. Welches Pferd käme denn nach der Demontage der Kanzlerin – und nützt uns das wirklich in Zeiten, in denen die Welt in eine Bewegung gerät, deren Ende sich momentan nicht seriös abschätzen lässt? Was man an ihr immer moniert, ist, dass sie nicht führt. Sie moderiert. Ich halte das für einen demokratischen Führungsstil. Er erspart eben nicht das Mitdenken. Ob Miteinander, Paritätischer Wohlverhaltensverband, ESSPEEDEE, die Generation der jetzt Mitdenkenden ist offensichtlich aufgewachsen mit dem Fokus, dass alles geht, nur nicht das Ego beschmutzen. Das muss rein bleiben, geht die Welt auch unter. Sie erinnern mich an das Titanic-Orchester – nur, dass ich ihnen nicht mehr zuhören möchte, weil sie mich in ihrer moralischen Arroganz ankotzen.

War noch etwas zu sagen? Ja. Sachsen-Anhalts AfD-Vorsitzender Poggenburg und seine Demokratieopfervereinigung nutzen die Vorlage natürlich, vor allem um gegen den Verein Miteinander Gift zu versprühen. Ja, man sollte sich vor ihrer Präsenz in Acht nehmen. Man sollte es ihnen so ungemütlich wie möglich machen, indem man sie in Gespräche verwickelt, ihnen deutlich macht, dass eine Partei, die sich nicht von einem Herrn Höcke zu trennen vermag, den Anspruch verwirkt, noch als demokratisch zu gelten. Wer permanent rote Linien verbal übertritt, kann sich auch nicht auf Meinungsfreiheit berufen.

Weshalb war es nun wichtig, diesen langsamen Leser vor dem 20. Januar zu schreiben? Weil er sonst möglicherweise versöhnlicher geworden wäre. Das ist aber jetzt nicht dran! Und Sie wissen ja: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass eine Partei, nur weil sie demokratisch gewählt wurde, damit keinen Ausweis erhalten hat, der auf demokratische Inhalte schließen lässt.

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