Langsamer Leser: Wolfsgeheul

Ich habe die Ernte abgewartet, bevor ich diesen Artikel schrieb. Ich wollte die Jäger am Tag vor dem Schnitt sehen, wie sie mit ihren Jagdhunden über das Feld laufen, um die Rehkitze, die Hasen, die Bodenbrüter aufzujagen, dass sie flüchten. Einen Bauern kenne ich, dessen Dame des Hauses vor der Ernte durch das Feld reitet, die dortigen Bewohner zu vertreiben. Einen. Für viele ist das Tierromantik. Für die Jäger sind das wahrscheinlich nicht zu vermeidende Verluste, ist man doch mit der industriellen Landwirtschaft verschwippt und verschwägert. „Verluste gibt´s überall“, pflegte unser ehemaliger Ortsbauernführer zu sagen. Ein Satz, der ihn schon durchs Dritte Reich getragen hatte. Nach dem BUND werden jedes Jahr zur Getreideernte etwa 500.000 Wildtiere, Rehkitze, Hasen und so weiter gehäckselt. Da beeindrucken mich schon die großen Worte, die die Bauernverbände und die Tierzüchter um der paar Risse durch Wölfe bei Schafen, Ziegen, Kälbern wegen schriftlich, mündlich, mit mehr oder weniger großem Geschrei und Wehklagen verlieren. Es gäbe auch so genannte „Wildfinder“, eine Art Wärmedetektoren, mit denen man die Erntemaschinen ausrüsten könnte. Dann müsste die Maschine aber jedes Mal anhalten ... Ich habe das Geschrei der Jäger im Ohr, wenn ich zwischen März und Juli meine Hunde von der Leine lasse (die kein Wild reißen); ich höre, wie der Wolf unter das Jagdrecht gestellt werden soll; ich habe bisher keine Petition gelesen, nach der die Jäger um eine Gesetzesänderung vorstellig geworden wären, dass die Erntemaschinen ab sofort verbindlich mit „Wildfindern“ ausgerüstet werden sollten. Ist das nicht merkwürdig?
Okay, bleiben wir sachlich. Für den betroffenen Schäfer ist das ärgerlich, ja, kann zur existenziellen Bedrohung werden, wenn der Wolf Tiere aus seiner Herde reißt. Wobei die Frage an das Land bleibt: Wieso kriegt der betroffene Schäfer erst nach Wochen oder Monaten und dann nur zu 80 Prozent seine Verluste bezahlt? Kann ich davon ausgehen, dass man gern den Ärger, sprich das Feuer am Glimmen hält? Wenn die Bauern mit einer langen Liste Unzumutbarkeiten kommen (beispielsweise Tierwohl! Völlig unzumutbar. Solange die Hühner nicht mit gekürzten Schnäbeln auf die Welt kommen, muss man der Evolution unter die Schwingen – oder zum Schnabel greifen. Die Natur ist leider unvollkommen.), hat man auf der Liste der Unzumutbarkeiten noch den Wolf. Da geht immer was. (Vielleicht nicht ganz abschießen, aber diesen oder jenen oder am besten gleich beide). Also zumindest kann man ja die Hoffnung verbreiten, dass er unter Jagdrecht komme. Und am besten betraut man die Jäger mit der Entscheidung, ob man die Bestie laufen lässt oder in Schussobhut nimmt. Das sind einfach kurze Wege, zumindest zwischen Augen und Zeigefinger. Der Brägen kann da nicht im Weg sein. Pardon, ich wollte ja sachlich bleiben.
Es gibt Länder in Europa, die immer mit dem Wolf gelebt haben. Warum gibt es zwischen den Schäfern dieser Länder und unseren so wenig Erfahrungsaustausch? Dass man beispielsweise nicht auf die irrige Idee kommt, in unseren Landen Hirtenhunde einzusetzen, die dem Wolf Paroli bieten sollen, zugleich aber auch eine Gefahr für den Menschen, der sich zufällig der Herde nähert, darstellen. Wo der Hund die größere Gefahr als der Wolf ist. Das kann man in Ländern machen, in denen die Schafherde auf weiter Flur allein ist, aber nicht im dichtbesiedelten Deutschland. Ein Austausch wäre dringend geboten und würde wahrscheinlich auch mehr Sachlichkeit in die Diskussion bringen.
Alle Radfahrer in unserem Dorf können von Wolfsbegegnungen erzählen. Wir sind mit unseren Hunden jeden Tag in der Feldflur. Nichts. Er zeigt sich nicht. Ich vermute, die Wölfe meiden mich, weil sie mein Deo nicht mögen. Aber auch die Hunde zeigen keine Spur von Beunruhigung. Was machen wir falsch gegenüber all den radelnden Wolfsbeobachtern, die das Raubtier schon im Dorfe wähnen? Neulich wollte ich unsere Nachbarin trösten: Das ist nicht so schlimm, meine Liebe. Im Märchen bescheidet er sich erstmal mit der Großmutter. Ach, was hatte ich da wieder angerichtet. Die Dame war Großmutter geworden. Der Trost ging ins Auge.
Woher kommt diese Angst vor einem Tier, das man allenfalls im Tierpark sieht, in den seltensten Fällen tatsächlich in der freien Wildbahn? Und das nun offenbar zur Bedrohung wird, weil es realiter im Wald unterwegs ist. Die Psychologin Uta Jürgens untersucht die Beziehung zwischen Mensch und Wildtieren. Dafür erhielt sie den Forschungspreis der Deutschen Wildtier Stiftung. Ein Grundproblem in unserer Beziehung zu Wildtieren, sagt sie, liegt darin, dass wir im westlichen Verständnis uns als Mittelpunkt der Welt sehen. Sie erzählt von den Hopi-Indianern in Arizona, die ihre Existenz mit der anderer, beispielsweise der Wildtiere, eher verbunden sehen. Da gibt es diese Ängste vor dem Fremden nicht. „Wir sind häufig der Meinung, die Natur müsse sich uns anpassen.“ Und: „Wir sehen im Wolf unseren Hund, der sich jedoch nicht so einfach kontrollieren lässt. Das macht Angst.“
Unlängst berichtete die Lokalreporterin der Tageszeitung von einem Hirschriss, den etliche Wölfe zu verantworten hätten, so zumindest der vor lauter Unglück und Elend laut barmende Jäger. So überzeugend war er, dass die Reporterin das Fragen vergaß. Kann es sein, dass der kapitale Hirsch über das Alter hinaus war, dass er lahmte oder aus Krankheit schwächelte? Welchen Grund kann es gehabt haben, dass die Wölfe ihn stellten und nicht ein schwächeres Tier? Und über die gemeinsame Traurigkeit von Jäger und Reporterin entsteht ein Zerrbild des Wolfes als Kapitalverbrecher, der hinterrücks und aus schierer Grausamkeit mordet. Nicht einmal vor Muttertieren macht er Halt, empörte sich der Jäger, um nun auch dem letzten Leser deutlich zu machen, welche Perversität des Grauens wir in den lieblichen heimischen Wäldern zulassen. Da wird nicht mehr berichtet, da lässt man sich einfangen und instrumentalisieren.
In der „National Geographic“ vom August 2017 wird Bundesförster Klau Puffer, zuständig für den Truppenübungsplatz Altengrabow, zitiert, der nach einem russischen Sprichwort meint: „Wo der Wolf jagt, wächst der Wald.“ Der Wolf hält das Wild in Trab, das in der Folge weniger Baumtriebe verbeißen kann. Mit anderen Worten, die Förster begrüßen die Ankunft des Wolfes, nicht zuletzt, weil durch die Politik der Jäger (und ihrer faulen Beine, die Jäger jagen ja nicht mehr durch den Wald, sondern warten auf dem Hochsitz, dass das Wild sich gefälligst zum Erschießen freiwillig meldet) die Wälder übervoll mit Rehen sind. Dank der Anbaumethoden der industriellen Landwirtschaft ist auch der Wildschweintisch überreichlich gedeckt, man betrachte sich nur die kilometerlangen Maisfelder, mit entsprechenden Wachstumsraten der Wildschweinpopulation. Es ist eine Legende ohne Wahrheitsgehalt, dass die Verbreitung des Wolfes signifikant in den Wildbestand eingreife. Dass man nicht mehr Sprünge von über 20 Rehen sieht, hat lediglich mit dem stressbedingten Verhalten der Rehe zu tun: Sie verteilen sich anders, verhalten sich wieder natürlich und nicht wie Masttiere, die zufällig ohne Zaun leben. Die Zahl der Wildrisse durch den Wolf beträgt auf 100 Hektar 1,5 Rehe, fällt also kaum ins Gewicht, zumal sich der Wolf im Allgemeinen (sicher gibt es auch da Ausnahmen, die aber nicht die Regel sind) an Wild hält, das der Jäger nicht unbedingt jagen will, also kranke oder alte Tiere, an leichte Beute. Auch den Waschbären verschmäht er nicht, womit dieser endlich einen natürlichen Feind hat.
Richtig ist, dass man sich mit dem Thema beschäftigen muss. Der Wolf wird, zumindest im ländlichen Bereich, wieder zu unserem Leben gehören. Was ich vermisse, sind beispielsweise Wolfspfade, auf denen Spaziergänger im Wald, wie bei Naturschutzpfaden auch, über den Wolf aufgeklärt werden. Nur wenn wir uns von ihm erzählen, von seiner Fürsorglichkeit gegenüber seinen Jungen, von seiner Geselligkeit, wenn wir ein wenig von der Faszination spüren, die dieses Tier ausüben kann, wird sich unser Bild von ihm wandeln, sagt Uta Jürgens. Ludwig Schumann

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