Langsamer Leser: Solidarität statt Kapitalismus

Ich habe noch eine Menge Fragen zu stellen, die meine Partei noch unzureichend beantwortet hat“, sagte der 65-jährige Blüm dem „Stern“ im Jahre 2001. „Die Gefahr ist groß, dass wir die Gerechtigkeit vernachlässigen. Früher haben wir gemeinsam gegen die Vergesellschaftung der Wirtschaft gekämpft, heute sehe ich die Gefahr einer Verwirtschaftung der Gesellschaft.“ Und der 71-jährige Geißler sekundierte: „Der Kapitalismus ist genauso falsch wie der Sozialismus.“ So werden Norbert Blüm und Heinrichjosef (Heiner) Geißler in der Frankfurter Allgemeinen vom 12.4.2001 zitiert. Wer hätte das gedacht, trumpfte Geißler doch während seiner Zeit als CDU-Generalsekretär neben (nicht unter!) Kohl ganz anders auf: Da war die SPD schon mal die fünfte Kolonne im Solde Moskaus oder die Grünen der „Volkssturm der SPD“.

Nach seinem missglückten Putsch gegen Kohl, als er mit Rita Süßmuth Lothar Spät an Kohls Stelle implantieren wollte, erinnerte sich der ehemalige Jesuitenschüler wieder dessen, dass zum Konsens einer Gesellschaft Gerechtigkeit eine nicht zu vernachlässigende Größe ist. Er riet Angela Merkel einst, mit dem Slogan „Solidarität statt Kapitalismus“ als CDU-Wahlkampfslogan in die Bundestagswahl zu gehen. Das hat sie sich damals leider nicht getraut. Damals setzte man eher auf einen entfesselten Kapitalismus, wie er dann in die stärkste Krise seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts führte. Der Amerikaner mit dem Pelztier auf dem Kopf, das das Loch zudeckt, aus dem es sich vom Hirn des Präsidenten nährt, ist gerade dabei, die von Obama eingezogenen Bremsen wieder zu entfernen. Umso ungeschützter werden wir auf die nächste Krise zurasen. Übrigens, wenn Sie, das nur als Nebenbemerkung, die Wirtschaftspunkte des AfD-Programms lesen, werden Sie sehen, dass auch diese Partei den Traum vom entfesselten Kapitalismus immer noch träumt - aber die ihr heute nachlaufen, sind die, die durch den ehemals ungefesselten Kapitalismus in die Lage gebracht wurden, aus der sie heute nicht herausfinden. Und die wollen Sie wählen? Wie war das doch mit den dümmsten Kälbern?

Geißler trieb es 2007 zu Attac. Er wurde hochbetagtws Mitglied. Der unverhältnismäßige Polizeieinsatz in Genua hatte ihn empört. Ich denke, Hamburg hätte ihn nicht minder auf die Barrikaden getrieben. Vor allem aber diese Politikergeneration, die unbeeindruckt vom Protest so vieler europäischer Jugendlicher den toten Kapitalismuszossen weiterreiten wird, bis er unter ihnen zusammenbricht. Leute wie Olaf Scholz hören schon lange keine Signale mehr, jedenfalls nicht die, die einst die Völker hören sollten.

Am 12. September hat der leidenschaftliche Bergsteiger seinen letzten Gipfel erklommen. Am Vormittag stand sein drittes von drei geplanten SPIEGEL-Gesprächen auf dem Kalender, am Abend eine Lesung in der Magdeburger Stadtbibliothek. Er hat sich bis zuletzt nicht geschont. Im 87. Lebensjahr! Er war immer unterwegs, Menschen zu gewinnen.

Am 12. September las statt seiner der langsame Leser in der Magdeburger Stadtbibliothek. Geißler: Ein Katholik, der sich um die Reformation kümmerte. Ein rechter Politiker, den eine harsche Kapitalismuskritik auszeichnete. Ein Jesuitenschüler, dessen Glaube im Alter „große Löcher“ aufwies. Geißler selbst: „Mit einundzwanzig Jahren habe ich die ewigen Gelübde abgelegt, Armut, Keuschheit und Gehorsam. Mit dreiundzwanzig Jahren habe ich gemerkt, dass ich zwei davon nicht so gut halten. Es war nicht die Armut.“ Im Alter trieb ihn die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes aus seinem Glauben. Geißler war immer unbequem, „Die Zeit“ nannte ihn gar den „Unerbittlichen“. Aber er war einer, der auf Argumente hörte, der ebenso charmant sein konnte wie unerbittlich.

Er war immer erkennbar. In seinem ursprünglichen Hass gegenüber dem ausgemachten ideologischen Gegner ebenso wie später, der Weisheit des Alters entsprechend, wiederum in strenger Gegnerschaft gegenüber einem Kapitalismus, der sich aufmachte, den Konsens in der Gesellschaft aufzufressen. 2013 schreibt der ehemalige Schüler des Jesuitengymnasiums St. Blasien im Schwarzwald und spätere Novize dieses Ordens über den gerade gewählten Papst Franziskus, gleichfalls einen Jesuiten: „Seine Aufgabe wäre es, sich für eine humane und gerechte Wirtschaftsform einzusetzen, die wir heute nicht haben". Geißler, der als Dreiundzwanzigjähriger aus dem Orden austrat, war – und blieb das auch – fasziniert vom sozialen Ansatz der Jesuiten, deren Einsatz für Menschen- und Frauenrechte sowie dessen Friedensarbeit. Diese frühe Begegnung mit diesen urchristlichen Anliegen war es auch, die ihn später zu dem unerbittlichen Kapitalismus-Kritiker werden ließ. Die Wut, mit der junge Menschen gegen die G-20-Gipfel anrennen, bezeichnete er bei Maybrit Illner als eine Wut, dass Menschen erleben, dass sie in einem Wirtschaftssystem leben müssen, das ausschließlich und allein den Kapitalinteressen dient, das über die Interessen der Menschen und der Natur einfach hinweggeht. Das ertragen die Menschen nicht mehr, vor allem nicht mehr junge Leute, die ihr Leben noch vor sich haben…

Ein solches System (in dem 300 Leute so viel Kapital haben, wie drei Milliarden Menschen in einem Jahr verdienen) ist nicht konsensfähig. Es muss ersetzt werden durch eine neue Wirtschaftsordnung. So kam er in einem anderen Gespräch zu dem Schluss: „Es gibt Geld wie Heu. Es ist nur falsch verteilt.“ Zum Thema Flüchtlinge konstatiert Geißler: „Es gab eine Bewusstseinsveränderung. Wir sind nicht mehr der Auffassung, wie das in einer zivilisierten Nation der Fall sein müsste, dass wir eine Verpflichtung haben, denen zu helfen, die in Not sind. Das ist Nächstenliebe ... Wir haben in den letzten zwanzig, dreißig Jahren uns in dieser Gesellschaft eine unmoralische Bewusstseinsbildung anerzogen.“ Sie merken, liebe Leser, da ist einer nicht leiser im Alter geworden, sondern zorniger, aber auf der Grundlage einer messerscharfen Analyse der Gesellschaft. „Die apokalyptischen Reiter sind heute die Kapitalisten, die Fundamentalisten, es sind die Nationalisten“, beschrieb der Vorsitzende des südpfälzer Gleitfliegerklubs bei anderer Gelegenheit in einem Gespräch mit Jean Ziegler die westliche Gesellschaft.

Aber auch das Bild, das die Kirchen abgeben, trieb ihn um, nun auch im Jahr des Reformationsjubiläums: „Luther war nicht nur ein großer Theologe, er war auch ein großer Widerständler.“ Aber ebenso harsch wie mit der Wirtschaft, mit der Politik, mit der Gesellschaft geht Geißler auch mit den Kirchen und mit der Gerechtigkeit Gottes ins Gericht. „Warum hat Gott die Welt so geschaffen, dass sie erlöst werden muss?“ Die Kirchen, sagt er, müssten einfach sagen: „Wir wissen es nicht.“ Zugleich verweist er auf Paulus, der gesagt hat: Uns bleiben drei Dinge, der Glaube, die Hoffnung und die Liebe. Und die Liebe ist das höchste der drei. Ob Gott existiert, kann man bezweifeln. „Mit dem Zweifel kann man trotzdem Christ sein.“ Mindestens hat man dann „die Sehnsucht nach der Sehnsucht, glauben zu können.“ Und endlich bleibt ihm die Hoffnung, dass es Gott oder/und die Gerechtigkeit gibt. Und endlich bleibt die Liebe, die keine „Gesundbeterei“ ist, sondern die, die der Samariter aufbrachte, der Abweichler, der Renegat, und der wendet sich dem anderen zu, versorgt ihn medizinisch und bringt ihn ins Gasthaus. Der Verachtete entpuppt sich als der Nächs-te. „Nächstenliebe ist eine Pflicht, dem Nächsten zu helfen, der in Not ist. Der Nächste kann auch der Feind sein, wenn er in Not gekommen ist.“ Eine unbequeme Wahrheit. Ja, das blieb Geißler bis zuletzt allen, denen er begegnete, ein unbequemer Mahner, eine großartige Stimme der Vernunft, die nun fehlen wird. Ludwig Schumann

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