Langsamer Leser: Schon wieder Leidkultur
Nein, Glauben macht nicht per se bessere Menschen. Aber glauben Sie mir, er kann eine feste Verortung im Leben geben, kann ein fröhliches Leben ermöglichen, auch, weil einem im Glauben immer auch der Spiegel vorgehalten wird. Religion kann auch töten, wie jede Ideologie, unter die wir uns begeben. Religiöse Menschen taugen, wenn sie irregeleitet werden, auch zu Massenmördern, wie wir an Menschen wie Abu Bakr al Bagdadi oder George W. Bush studieren können. Es ist schon ein seltsames Ding mit der Religion. Freilich, der Nichtglaube schützt den Menschen genauso wenig vor der Mordlust einer nichtgläubigen Führerriege, wie wir aus unserer und aus der Geschichte der Sowjetunion oder der Kambodschas wissen. Bei Lichte besehen, ist ja auch der Atheismus ein Glaube, der entsprechend zu missbrauchen ist.
Kommen wir doch mal zu einem prominenten Christen, einer Hugenottenfamilie entstammend, der im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages sitzt – und aus der Familiengeschichte heraus wissen müsste, was Flucht für einen Menschen bedeutet. Der beinahe achtzigjährige Journalist und ehemalige Intendant des Westdeutschen Rundfunks Fritz Pleitgen sagte kürzlich in einem großen Interview im Deutschlandfunk: „Flucht ist kein Spiel“. Und nun kommt unser Innenminister, von vielen immer noch, trotz Afghanistan-Abschiebungen, als ein besonnener Mann gehandelt, mit einer Neuauflage der einst von Friedrich Merz unseligen Angedenkens angestoßenen Leitkulturdebatte.
Die große deutsche Vier-Buchstaben-Tageszeitung titelte mit einem Satz aus der ersten These: „Wir sind nicht Burka.“ Die AfD hätte es nicht besser formulieren können. Und die Frage stellt sich: Wenn das Wahlvolk so denkt, wie solcherart Lautäußerungen vermuten: Warum sollte da das Wahlvolk nicht das Original statt einer weichgespülten AfD wählen, zu der im wahlvolkvorauseilenden Gehorsam CDU-Politiker wie der Herr Innenminister oder Herr Spahn etc. im Gefolge von CSU-Seehofer und -Söder angetreten sind. Bei den zehn Thesen im Katalog zur Skizzierung einer deutschen Leitkultur findet der aufmerksame Leser viele allgemeine Freundlichkeiten, die freilich durchaus unter einem anderen Impetus als dem der Leitkultur für die Debatte um den Konsens der Gesellschaft Anregungen sind. Weniger in der Auseinandersetzung der Einheimischen mit den Hinzugekommenen als vielmehr im Bezug darauf, dass beispielsweise das Bildungssystem den benannten Anforderungen in keiner Weise gerecht wird.
Da muss man Ursachen benennen, statt Wunschdenken zu verbreiten. Ganz und gar weltfremd wird es in These 6, wenn der Herr Innenminister die Mär vom präsentischen christlichen Abendland verkündet: „In unserem Land ist Religion Kitt und nicht Keil der Gesellschaft.“ Fröhlich schwadroniert er davon, dass die Kirchen in unserem Land die Menschen im täglichen Leben verbänden, „unser Land ist christlich geprägt“. Möglicherweise reduziert sich ja sein Blick auf das Gebäude des Innenministeriums, da kenne ich mich mit der Christlichkeit nicht aus (ich erinnere aber noch mal an die Afghanistan-Abschiebungen, die im übrigen auch St. Martin, der Buchhändler von Würselen, befürwortet), im Brennpunkt der Reformationsfeierlichkeiten, in der Lutherstadt Wittenberg, beträgt der quantitative „Kitt der Gesellschaft“ gerade mal müde 12 evangelische Prozent der Bevölkerung. Hoffnung kann man ja immer haben. Aber den Jetztzustand der Gesellschaft so zu beschreiben, zeigt, dass unser Innenminister ein sehr unerschrockener Denker sein muss.
Der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen bewertete das Sekret des Bundesinnenminis- ters als „unangenehm und unangebracht“: „Hässliche Sätze zu schreiben wie ‚Wir sind nicht Burka’ in Kombination mit: ‚Wir sind Kulturnation’ empfinde ich in höchstem Maße anbiedernd an die Sprache der Boulevard-Presse. Diese Sätze sind de Maiziéres Angst vor der AfD geschuldet und reine Wahlkampftaktik.“ (evangelisch.de)
Kathrin Weßling bringt auf bento im übrigen unsere Christliches-Abendland-Rhetorik unwiderstehlich auf den Punkt: „Der Aldi ist unsere Kirche. In REWEgkeit, Amen.“ Christian Lindner von der FDP hat zur Leitkultur de Maiziérescher Prägung ziemlich genial auf das Grundgesetz verwiesen. Da stehe alles drin, was man wissen müsse. (Methode Blindes Huhn und Korn in diesem Falle). Jürgen Habermas, der deutsche Philosoph, hält gar die so formulierten Thesen für grundgesetzwidrig.
Wer seine Thesen unter dem hinfälligen Merz’schen Kampfbegriff versammelt, versemmelt von vornherein jeglichen integrierenden Anspruch. Mit AfD-Formulierungen wie „Wir sind nicht Burka“ entkleidet er den Text ohnehin jeglicher Seriosität. Will sagen: Der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland schleuderte bewusst – was beispielsweise die Wahl der Zeit der Veröffentlichung im Wahlkampf deutlich macht – einen geistigen Brandsatz ins Volk. Es wurde seinerzeit viel über pflastersteinwerfende Vergangenheitstätigkeiten eines Außenministers gesprochen. Das war in dessen Jugend. Einem in der Hoch-Zeit seines Denkens stehenden deutschen Innenminister darf man das Werfen geistiger Molotow-Cocktails nicht nachsehen. Da wandelt sich einer vom Paulus zum Saulus. Ludwig Schumann