Langsamer Leser: Mehr Fische durch den Wald
Ist das nicht eine erlesene Überschrift? Ganz recht. Peter Wohlleben stellt die Überschrift des langsamen Lesers auf der letzten Seite seines Bestsellers „Das geheime Leben der Bäume“ als rhetorische Frage. Wir kommen darauf zurück.
Das ist doch seltsam, dass sich ein Buch derart unverschämt auf dem ersten Platz der Bücher-HitListen festkrallt, also verkauft wird wie der Teufel – ich erhielt zu Weihnachten ein Exemplar der 25. Auflage geschenkt – der Autor in den einschlägigen Wochenillustrierten satt zum Reden kommt, im Fernsehen Auftritte hat, kurz: Jeder kennt den Förster Peter Wohlleben (bei dessen Namen Beruf, Buch und Marketing schon in eins fließen), aber niemand spricht über das Buch. Jeder hat es, aber keiner wollte es gelesen haben oder versichert: Es ist das nächste Buch, das ich lese. Egal. Es gibt keine Diskussion. Jedenfalls höre ich von keiner.
Wir haben einen großen Garten, der in eine Reihe Gartenzimmer aufgeteilt ist: Kräutergarten, Küchengarten, Beerengarten, Staudengärtchen, Weinberg, Dichtergarten, ein kleines Wäldchen, eine Obstbaumwiese, eine Rhododendronecke, Benjeshecken und die unberührte Nachtigallenspitze des Gartens, umsäumt von einer Hecke aus Haselnuss, Holunder, Berberitze, Wilden Rosen etc., in der sich Steinberge, Dachziegelhaufen, die Blattberge aus Vorjahren türmen. Ein, zwei abgestorbene Bäume bleiben als Skulptur stehen, solange sie nicht selbst zusammenbrechen und manchem Mitgeschöpf als Wohnung oder Nahrung dienen.
Einmal standen Nachbarn ratlos in diesem Garten und versuchten, ihren Eindruck freundlich zu umschreiben: Ja, sagte die Dame, also das sieht irgendwie sehr mediterran aus. Dabei beneiden sie uns um die Vielzahl der Vögel, die trotz Katzen hier ihr Zuhause haben. Nun, wovon sollen sich die Piepmätzer denn auf englischem Rasen, soweit er noch nicht betoniert ist, in einem Garten ohne Komposthaufen, nähren? Mit leerem Bauch singt man nicht gern. Ich will nur sagen: Manches von dem, was Wohlleben erzählt, glaube ich beobachtet zu haben. Insofern hat er mich als Leser nicht überrascht. Einigermaßen geschickt jongliert er, wenn es brenzlig wird, wenn der Leser auf den Verdacht kommen könnte, dass da einer doch ein wenig esoterisch daherplaudere, mit den wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Erkenntnissen zu seinem jeweiligen Kapitelthema. Beides ist erlaubt, schreibt Wohlleben ja kein wissenschaftliches Lehrbuch zum Thema.
Arme Vegetarier und Veganer. Aus der Ecke hätte ich Jubel erwartet. Aber das geht ja nach Lektüre gar nicht. Wenn Pflanzen Schmerz empfinden, wovon nach Wohlleben, und nicht nur nach ihm, auszugehen ist, entfällt die ideologische Begründung des Vegetarier- oder Veganertums, das bessere Gewissen gegenüber den Fleischfressern zu haben, weil sie die Todesschreie der Pflanzen nicht zu hören vermochten. Nun wissen sie, dass es sie gibt. Abgesehen vom Palmölverbrauch in den veganen Lebensmitteln, das wäre aber ein anderes Thema. Was heißt: Die einzige Begründung, Vegetarier oder Veganer zu sein, ist: „Es schmeckt mir.“ Mir würde das ausreichen. Aber das ist auch die Begründung des Fleischfressers. Wer Nahrung zu sich nimmt, tötet. Ende der Debatte. Anders formuliert: Der Mensch befindet sich im Kreislauf der Natur und kommt da auch nicht heraus. Es gibt kein Leben ohne Schuld, aber eines in Verantwortung.
Wohlleben ist Förster der Gemeinde Hümmel in der Eifel. Eine Gemeinde mit einem klugen, vorausdenkenden Gemeinderat, scheint es. Denn eigentlich wollte er seinen Beruf schon an den Nagel hängen. Er hatte den Eindruck, dass er diesem in Deutschland gar nicht mehr nachkommen könne, weil es in den Holzplantagen, die hier Wald genannt werden, eher Holzmetzger als Förster brauche. Über viele Jahre und Erfahrungen, viele Gespräche mit Interessierten, über Gespräche mit Wissenschaftlern, die in seinem Revier forschten, über mancherlei eigene Beobachtungen entwickelte sich für ihn eine andere Art des Umgangs mit Wald. Wer weiß, dass Bäume Freundschaften schließen, in Familien leben, kann nicht mehr mit schwerem Gerät in den Wald fahren und Holz in Kubikmetern rechnen. Noch dazu, wo über die Schwere der Maschinen die Waldressourcen, der Boden als Wasserreservoir und das Wurzel-Pilzgeflecht, nach Wohlleben das „Wood-Wide-Web“, auf Jahre hinaus geschädigt werden. Seine Vorstellungen der Waldbewirtschaftung – auch Wohlleben denkt ökonomisch – gefielen dem Gemeinderat, der ihn anstellte. Er verdient das Geld mit dem Wald, nicht gegen ihn. Und er zeigt, dass das geht. Mit Friedwald, Führungen, ja, auch dem Fällen von Bäumen. Einzelstücken, die, da gut gewachsen, mehr Geld einbringen als Massenholz, die an bestimmten Stellen des Waldes die Krone auflichten, um nachwachsenden Bäumen, die lange genug unter dem Blätterdach vom Sonnenlicht nur kleine Portionen für ein langsames Wachstum erhielten, den Weg frei zu machen. Die Bäume werden, wie früher, von Pferden aus dem Wald geholt. Dass da einer unökonomisch arbeite, kann man ihm nicht vorwerfen. Er betrachtet den Wald freilich nicht als Holzreproduktionsstätte, sondern als eine für die großen Menschheitsfragen, Klimaveränderung, Ozonloch, Wasserbevorratung, wichtige Ressource, die es zu erhalten gilt. Notwendig dazu ist die Erkenntnis und Einsicht, dass man es mit Lebewesen zu tun hat, die Persönlichkeiten ausbilden. Das beträfe die Landwirtschaft in gleicher Weise. Zwar wird immer behauptet, dass es keine Alternative zur agrarindustriellen Landwirtschaft gäbe, jedoch mehren sich die Zweifel, inwieweit diese Form der Landwirtschaft tatsächlich einen nachhaltig effektiven Beitrag zur Welternährung leisten kann. SWISSAID und das „Centre for Development and Environment“ der Berner Universität entwickeln Ideen für ein nachhaltiges Produktionssystem. Die industrielle Agrarproduktion gilt schon länger als viel zu ressourcenintensiv in der Produktion. Ich will es aber gar nicht wissenschaftlich beschreiben.
Fahren Sie doch im Frühjahr mal heraus und betrachten sich die freudlosen Felderlandschaften. Wir haben Äcker, auf den seit zehn Jahren autistische Maispflanzen auf totgegülltem Boden stehen. Die Freude, die auf alten Bildern sich noch sichtbar in der Landschaft über die Pflanzenfamilien breitet, ist längst der Eintönigkeit gewichen, in der stumpf vereinzelte Massenpflanzen auf die Hinrichtung warten. Ähnlichkeiten mit der „Tierproduktion“ sind nicht von der Hand zu weisen. Wohlleben zeigt es wiederum an den Bäumen, den sogenannten „Straßenkindern“, die sinnlos in Form geschnitten und dadurch pilzanfällig gemacht werden. Sofern es überhaupt noch baumbestandene Feldwege gibt, werden die Jahr für Jahr um einige Zentimeter enger, mithin werden den Bäumen die Wurzeln solange abgepflügt, bis die Bäume aufgeben. Irgendwann wird auch der Feldweg umgepflügt. Wer braucht ihn in der agrarindustriellen Wüstenlandschaft?
Die Bäume kommunizieren, behüten einander, warnen sich. Das sind nur chemische Prozesse? Offensichtlich haben Bäume, mithin auch Pflanzen, ein Gedächtnis. Wohlleben breitet das „geheime Leben“ genüsslich vor uns aus. Tausende und Abertausende lesen es. Aber es beginnt keine Diskussion. Hat er mit seinem Buch die Schrecksekunde erreicht, die Stille produziert, bevor sich aus dem Nachdenken der Sturm entwickelt? Es müsste sich ja viel ändern, wenn sich etwas ändern sollte: Der Verbraucher, der Produzent, das Produkt. Plötzlich und unvermutet käme man in der Schöpfung an, wie sie anfangs gedacht gewesen ist – über den Umweg Wissenschaft, nur anders als gedacht.
Die farbenfrohe Landwirtschaft der Jahre 1990 bis etwa 1992 hatte, zumindest auf den Feldern, schon einen Touch davon. Aber das war schnell vergessen.
Auf die Fische wollten wir noch zu sprechen kommen. Der japanische Meereschemiker Katsuhiko Matsunaga, der an der Universität von Hokkaido forscht, schreibt Wohlleben, habe entdeckt, „dass aus dem herabgefallenen Laub Säuren über die Bäche und Flüsse ins Meer gespült werden. Dort regen sie das Wachstum von Plankton an, welches der erste und wichtigste Baustein der Nahrungskette ist. Mehr Fische durch Wald?“
2017. Ich wünsche uns gute Überraschungen. Ludwig Schumann