Langsamer Leser: Kennst du das Land?

Wir schreiben Mai 2018. An den Straßenrändern stehen allenthalben blühende Dome. Die Robinien re-cken ihre Kerzen gen Himmel. „Das sieht aus, als ob die Weinreben verkehrt herum hängen“, meint mein Enkel. Er lebt im Fränkischen. Das Summen in den Bäumen hört man bis ins Auto, vorausgesetzt man fährt sinnig und mit offenem Fenster.

Mir fällt natürlich noch ein Satz ein, der nicht am Schluss des langsamen Lesers stand, weil der sich wörtlich nicht ausmähren konnte und damit der Platz entfiel.

Der Cato-Satz: Und im Übrigen sage ich, nur weil eine Partei demokratisch gewählt ist, heißt das nicht, dass sie auch eine der Demokratie verpflichtete Partei ist. Nach Frau Weidels Beitrag zur Haushaltsdebatte kann ich natürlich nicht darauf verzichten. Ich meine, die Weidel, zumindest wird es behauptet, sei eine kluge Frau. Hat die das nötig, nur um Propaganda zu machen? Die AfD macht es nicht anders als die Regierung. Da suche ich auch noch den Ansatz eines intelligenten Regierens. Und wenn solche Aussagen wie die Weidels für 12 bis 24 Prozent Wählerstimmen reichen, sehe ich die Lemminge vor mir, die unter dem Gefühl der Überbevölkerung zum Abgrund rennen, um sich hinunterzuschmeißen. Armes Deutschland. Da werden sogar die Klugen zu Idioten. Aber darüber wollte ich heute gar nicht schreiben. Auch über Lindner nicht, der der Kanzlerin Führungsschwäche vorwirft. Da ruft der Dieb lauthals in die Straße, während er vom Tatort wegrennt: Haltet den Dieb! Nein, ich will auch nicht über die Heilige Einfalt sprechen. Wobei ich gar nicht glaube, dass sie jemals heiliggesprochen wird. Da fehlt ihr einfach das Format. Wobei – sicher kann man da auch nicht sein. Schließlich kommt bei ihr jeder Lobbyist zu Genuss, der ihr auf dem Schoß gesessen hat. Frau Klöckner meine ich. Die kann nur zur Agrarministerin gemacht haben, wer der deutschen Landwirtschaft das Böseste wollte, was erdenmöglich ist.

Ich will auch nicht über „anderes“ reden oder „diverses“ oder „Inder“ mit „t“, also völlig unsächsische „Inter“. Schubladendeutsch. Ähnlich belämmert wie Seehofer als „Heidi-Minister“. Mit Söder als Alm-Öhi, der jetzt seinen Hund in die Öffentlichkeit zerrt, um zu zeigen, dass im Gegensatz zu seinem Hund er nicht bissig sei. Man hört, er will das Kreuz jetzt auch wieder für öffentliche Hinrichtungen in Bayern einführen. Für Leute, die das Andenken von Franz Josef Strauss bekleckern, zum Beispiel.

Ich wollte über etwas schreiben, was mich unlängst begeisterte: Galsan Tschinags neues Buch, den ersten Band seiner Autobiografie, betitelt „Kennst du das Land“. Seine Mutter aller Städte spielt die Hauptrolle im Buch. Leipzig. Ja, Leipzig, sein Zuhause während der sechziger Jahre. sie sind bedrückend schön, diese Liebeserklärungen an die Stadt, die ihm die deutsche Sprache ermöglichte. Schenken kann man nicht sagen. Das war harte Arbeit für einen, der zwar lernhungrig und wissbegierig ist, aber aus einer völlig anderen Sprachwelt kommt. Seine Muttersprache ist Dwadl, ein urtürkischer Dialekt. Galsan Tschinag lebt in der Mongolei, am Altaigebirge. Hier lebt sein Volk, die Tuwa, deren Fürst und deren oberster Schamane er ist. Und eben jemand, der in einer an Wörtern reichen deutschen Sprache erzählen kann, wie man hierzulande kaum einen Schriftsteller trifft, dessen Muttersprache Deutsch ist. Galsan Tschinag, der einzige Nomade unter den mongolischen Studenten, die in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nach Leipzig kommen, der als einziger unter ihnen über keinerlei Deutschkenntnisse verfügt, schreibt über den Eindruck, den diese fremde Sprache auf ihn macht: Schneidend scharf wirkt sie auf ihn, hämmernd bestimmt. Und: „Die Menschen kommen mir anfangs wegen ihrer merkwürdig verteilten – überm Kopf so schütter und über anderen Körperlandschafen umso üppiger! – zieselgelben, mausbraunen, fuchsroten und anders vielfarbigen Haares, ihrer langen rabenspitzen Nasen, ihrer zu fülligen oder dann zu schlaksigen Gestalt recht unansehnlich vor: Der Schöpfer muss sie, einen nach dem anderen, in die Länge gezogen haben, ehe er sie entließ, während er mich aus seiner hohlen Hand nicht herausgelassen und immer wieder darauf geklopft hat, wohl einen Taaten-Knollen im Sinne.“

Den ersten Monat seines Leipziger Lebens verbringt er in der Lumumba-Straße 3, Zimmer 103. Sein Sich-Einfinden in diese fremde Kultur und Sprache braucht Zeit. Tschinag beschreibt diese Zeit mit einem wundervollen Humor – und er weiß sich gekonnt dabei selbst auf die Schippe zu nehmen. Mit ungeheurem Fleiß, mit noch mehr Neugier, mit dem Gedächtnis eines schriftlosen Volkes ausgestattet, das von der mündlichen Erzählung lebt, ist er bald der Beste unter den mongolischen Studenten. Hier in Leipzig lernt er die beiden Heiligtümer seines Lebens begreifen: Die deutsche Sprache und den Sport. Zur Messestadt entwickelt er eine ganz besondere, tiefe, bis heute anhaltende Liebe: „Wie dürfte ich diese mächtige neue Kraft näher benennen, um ihr Gestalt und Gesicht zu geben? Deutschland … Europa … die Neuzeit … oder was noch? Ich nehme einfach das Wesen, welchem ich mich jetzt am nächsten fühle. Das ist Leipzig, die uralte, ewig junge und weltoffene Stadt, die so viele Leiber, Geister und Seelen in sich birgt, sie alle trägt, erträgt, am Leben erhält und zusammenhält. Als Mutter vieler, aller. So nun auch als meine Mutter.“ Über eine solche Eloge kann man als Magdeburger nur neidisch werden.

Aber noch etwas lernt er in Leipzig und durch Leipziger: Seine Annahme, dass er aufgrund seiner nomadischen Herkunft aus der Kulturlosigkeit in einen Ort der Hochkultur gelangte, ist falsch. Hier, im Ausland, wird ihm deutlich, dass auch er aus einer Kultur kommt. Es ist eine gründlich andere, aber es ist eine, mit einer großartigen Erzähltradition. Immer wieder greift Tschinag in den Fluss der Erzählung ein, um bereits Ausblicke zu geben auf die nächsten Bände seiner Autobiographie. Hochinteressant sind aber auch seine Ausführungen über die Begegnungen mit Erwin Strittmatter, den nicht einfachen Schriftsteller, der so großartige Romane geschrieben hat wie „Der Wundertäter“ und „Der Laden“, beides Trilogien. Galsan Tschinag, ich sagte es bereits, kommt aus einer mündlichen Erzähltradition. Das merkt man seiner Prosa an. Eigentlich gehört sie laut gelesen, vorgelesen, dass man ihren erzählerischen Duktus auch genießen kann. Eine Empfehlung, den ersten Band seiner Autobiographie unter den blühenden Domen der Robinien zu lesen, das Rauschen der Blätter im Wind im Ohr und einen süßen Tee dazu trinkend.

Dabei über dieses Gedicht nachdenkend, dass den Platz des Poeten im eigenen Land auf geniale sprachliche Weise beschreibt. Und siehe oben, der Satz von Cato gilt auch an diesem Ende.

Ein Knopf, geknüpft
Zu einer falschen Größe
Und gewürgt
In ein falsches Loch
Auch noch
stecke ich am Kragen
Meines Landes
Wir fühlen uns beide unwohl …

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