Langsamer Leser: Gottes Kinder im Schutz des Altars

Nach Chemnitz und Köthen. Genau genommen ist der junge Köthener an einem Herzversagen gestorben. Aber wer glaubt das noch in solcherart aufgeheizter Stimmung. Aus dem Nichts kommen 2.500 engste rechte trauernde Angehörige, es muss eine große Familie gewesen sein, von der der Zweiundzwanzigjährige vermutlich vor seinem Tod nichts wusste und von der, vermute ich mal, er nach seinem Tod nicht unbedingt etwas wissen wollte. Ich will das hier noch mal unbedingt sagen: Ich empfinde vor diesen Leuten, die sich in solchen Fällen höchsteilig als Trauernde erklären, mehr Unbehagen, als in der Begegnung mit Menschen anderer Herkunft. Es steht eben leider nicht neben der Meldung aus Köthen, wie viele Menschen am Sonnabend in Deutschland unter deutscher Beteiligung zu persönlichem Schaden oder Leid kamen. Das halte ich für verhängnisvoll, dass dies nicht bei jeder solcher Meldung automatisch mit recherchiert und veröffentlicht wird. 

Der Eindruck, der weltweit entsteht, ist dabei nicht etwa leichtfertig herbeigeführt, es wird vielmehr bewusst und billigend in Kauf genommen, einer beneidenswert funktionierenden Wirtschaft mit dem entsprechenden internationalen Handel Schaden zu Un-gunsten derer anzurichten, die man als Mitläufer in den Trauerzügen stolz vorzeigt, indem man behaupten kann, dass man der Sprecher des Volkes sei. Bei den sogenannten Spaziergängern der Pegida ebenso wie bei den als Trauerzüge getarnten Aufmärschen geht es um nicht weniger als den Sturz des Systems, also den Sturz der Demokratie. Die, die heute die Demokratie stürzen wollen, missbrauchen den 89er Ruf „Wir sind das Volk!“ für ihre schäbigen Zwecke, den Ruf, der damals das neue Selbstbewusstsein derer stärkte, die die Demokratie einforderten.

Ich denke in diesen Tagen über die Einrichtung des Kirchenasyls nach. Bereits unter Thomas de Maizière wurde das Kirchenasyl zum Thema, unter dem Heimatminister Seehofer erst recht: Man will Pastoren auf dem rechtlichen Wege belangen, vermittelt den Eindruck, als täte die Kirche etwas Illegales. So zeigte der Landkreis Rhein-Hunsrück fünf Pastorinnen und Pastoren wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt an. Sie haben neun Sudanesen Kirchenasyl gewährt, die nach Italien abgeschoben werden sollten. Sie taten das und baten das BAMF um Überprüfung seiner Entscheidung, weil die Sudanesen befürchten, dass sie im gegenwärtigen Italien eher in den Sudan abgeschoben werden, als Bleiberecht zu erhalten. Die Ankunft im Sudan, befürchten sie, brächte ihnen den Tod. Wenn man gute Gründe hat, das gegen den Entscheid des BAMF zu verhindern, muss die Kirche diejenigen, die das Kirchenasyl in Anspruch genommen haben, 18 Monate beherbergen, bis das Dublin-Abkommen nicht mehr greift.

Ich finde das interessant, dass der Rechtsstaat in seiner Hilflosigkeit gegenüber diesem Phänomen, das den Rechtsstaat in keiner Weise in Frage stellt, sondern ihn im Gegenteil vor übereilten Handlungen bewahren will, um seinen Ruf nicht zu schädigen, ähnlich reagiert, wie das die DDR von jeher tat: Mit, gelinde gesagt, Unwilligkeit.

Woher kommt eigentlich die Einrichtung des Kirchenasyls? Das ist keine Einrichtung einiger durchgeknallter Pfarrer. Schon in vorchristlicher Zeit gab es das „Heiligtumsasyl“. Der Schutzsuchende flüchtete vor den Altar das Heiligtums, in dessen Nähe der Schutzsuche der jeweiligen Gottheit unterstand und damit unantastbar war. Eine Verletzung des Heiligtumsasyls galt als Frevel und zog göttliche wie weltliche Strafen nach sich. Es war eine kulturelle Errungenschaft der Menschheit. Mit zunehmender Chris-tianisierung des Römischen Reichs fiel dieser Brauch auch auf Stätten der neuen Religion. Hier kamen neutestamentlich noch die christlichen Tugenden der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe die Gemeinden verpflichtend hin. Im Jahr 419 erweiterte Kaiser Honorius den Wirkungsbereich des Kirchenasyls auf einen Umkreis von 50 Schritten vom Kirchenportal entfernt. Außerdem legte er fest, dass der Bruch des Kirchenasyls wie Majestätsbeleidigung zu ahnden sei. Karl der Große schrieb das Kirchenasyl selbst gegenüber den verhassten Sachsen aus. Erst mit dem Ewigen Landfrieden von 1495, indem das Gewaltmonopol dem Staat zugeschrieben wurde, verlor das Kirchenasyl an Bedeutung. Martin Luther war das Kirchenasyl noch so wichtig, dass er einen Traktat darüber schrieb. Nach und nach wurde das Kirchenasyl von den europäischen Staaten abgeschafft, ohne dass freilich die katholische Kirche ihren Anspruch darauf aufgab. In Deutschland gewann das Kirchenasyl seit den siebziger Jahren, also mit der Flüchtlingsbewegung, wieder an Bedeutung. Die erste Gemeinde, die in Deutschland wieder Kirchenasyl gewährte, war 1983 die Heilig-Kreuz-Gemeinde in Berlin-Kreuzberg. Damals baten drei palästinensische Familien um Asyl, die in den Libanon abgeschoben werden sollten, dessen Alltag 1983 vom Bürgerkrieg zerstört wurde. Der Fall eines jungen Türken, der vor der Militärdiktatur in seiner Heimat geflohen war, der durch Beschlüsse der bundesdeutschen Behörden an die Türkei wieder ausgeliefert werden sollte, wo weder Kirchenasyl noch Hungerstreik des jungen Mannes zu einer anderen Entscheidung führten, der sich schließlich aus dem 6. Stock des Berliner Verwaltungsgerichtes stürzte, erschütterte viele Menschen.

Wie gesagt, wer über die Einrichtung des Kirchenasyls schimpft, sollte sich zunächst einmal vor Augen führen, dass das Kirchenasyl eben keine Einrichtung gegen den Staat ist, sondern vielmehr eine den Rechtsstaat begleitende Einrichtung ist, die ihn durch den Gewinn von Zeit in die Lage versetzt, seine Entscheidungen noch mal auf deren absolute Rechtmäßigkeit zu überprüfen, um dem Rechtsstaat nicht zuträgliche Fehlentscheidungen korrigieren zu können. Dass das notwendig ist, zeigt die Zahl der Fehlentscheidungen bei den vom heutigen Bundesinnenminister veranlassten Rückführungen, die inzwischen die Peinlichkeitsgrenze längst überschritten haben. Herr Seehofer arbeitet derzeit strikt daran, eines Tages selbst ein Fall für das Kirchenasyl zu werden. Ich denke, spätestens dann wird er froh sein, dass es gibt, was ihn heute ärgert.   

Und im Übrigen meine ich, dass der nun folgende Satz erst beim nächsten langsamen Leser wieder zu lesen ist. Er ist nicht vergessen!

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