Langsamer Leser: Geile Rentner
Rentner müssen pfiffig planen. Zum einen weil das Gefühl wächst, dass Lebenszeit knapper wird. Zum anderen, weil sich manchmal Unaufschiebbares ins Planbare schiebt und so auf den Punkt genaue Verabredungen getroffen werden müssen. Berlin. 22. Juni. Gegen 21.00 Uhr. Dieser Termin war lange vorgeplant. Burg. 19. Juni. Shunt-Operation. Gespräch am Rande: „Das muss klappen, dass ich am Freitag nach Berlin fahren kann.“ Der Arzt fragt: „Was gibt es in Berlin?“ „Steine.“ Die Anästhesieärztin lacht. „Dann sehen wir uns ja dort.“ „Ja, aber wie erkenne ich Sie?“ Der Mundschutz erleichtert die Gesichtserkennung nicht unbedingt. „An meinen Augen werden Sie mich erkennen.“ Sie hat in der Tat außergewöhnlich schöne, sehr strahlende Augen. Aber bei 67.000 Leuten im Stadion? Die Visite am Donnerstag erbringt die Nachricht: „Das wird nichts mit der heutigen Entlassung, Herr Schumann. Vor Sonnabend früh sehe ich da keine Chance. Der Arm braucht Ruhe.“
„Falls Sie jetzt ein Problem mit den Konzertkarten haben, also da könnte ich Ihnen helfen.“ Ich finde, medizinische Behandlungen unter Stones-Fans sind Familienangelegenheiten. „Pardon, es ist keiner ausgeschildert, aber es müsste doch einen Parkplatz für Behinderte geben?“ Der Polizeibeamte überlegt einen Moment.
„Da wenden Sie, fahren zurück und auf Parkplatz 05 werden Sie einen Platz finden.“ Wenden auf einer Straße, in der die Fahrzeuge im Gegenverkehr „Fäden ziehen“. Irgendwann gelingt es. „Ja, aber wir haben hier keinen Platz mehr. Fahren Sie bitte eins weiter.“ Die nächste Parkmöglichkeit ist aber die für V.I.P.s. „Nein, keine Chance.“ „Dann rufen Sie Ihren Chef an. Ich will eine verbindliche Auskunft.“ Zum Parkplatz 05 zurück, heißt die Auskunft. Dort würden wir diesmal Aufnahme finden. Also wenden auf einer Straße, auf der die dicht auffahrenden Autos beiderseits „Fäden ziehen“. Merkwürdigerweise werden jetzt alle, die hier ankommen, auf den Parkplatz gelassen, nachdem wir eine Viertelstunde zuvor rigoros wegen Überfüllung weiterverwiesen wurden. Der Behinderteneingang zum Stadion ist nun tatsächlich der V.I.P.-Eingang. Betont freundlich, zuvorkommend, so geht es auch. Diese Freundlichkeit begleitet uns den ganzen Abend. Stones-Fans untereinander verstehen sich als freundliche Familie. Es geht wunderbar entspannt und aufeinander Rücksicht nehmend zu.
The Kooks als Vorband. Die waren auch schon bei „The bigger bang“ dabei. Englische Indie-Gruppe um den Sänger Luke Pritchard. Leider ist die Anlage hoffnungslos übersteuert, sodass die Songperlen, die sie haben, die auf der Waldbühne erklingen, letztlich ein wenig wie ein Einheitsbrei daherkommen. Was bei dem Kooks-Feeling für intelligente Rhythmen und überraschende Melodie-Loopings ausgesprochen schade ist. Dadurch kommt das Charisma des Sängers nicht wirklich zur Geltung. Aber wer wissen will, wie sie wirklich klingen, der sei auf ihre Studioalben verwiesen, die mit Recht zumindest in England sehr erfolgreich liefen. Versprochen, das lohnt sich.
Umbau. Die Bühne wird x-mal gewischt. Wenn ältere Herren ins Stolpern geraten, sind Knochenbrüche vorprogrammiert. Den Soundcheck machen die Herren nach wie vor mit eigenen Ohren und eigener Hand, wie der Tourmanager verriet. Fünf Stunden vor Konzertbeginn sind sie da, schnuppern die Stadionluft, bereiten sich vor, grooven sich ein. Man nimmt seinen Job ernst und lässt keine Nachlässigkeiten einreißen. Das ist das „Geheimnis“, weshalb die Show zwingend mit dem ersten Ton beginnt. Da ist kein Zaudern, kein Sich-Einspielen, kein tastender Beginn. Der „beste schlechteste Gitarrenspieler“ lässt das Riff zu „Streetfighting Man“ erklingen, nach Charlie Watts (77) einer der besten Stones-Songs, nur leider „mit diesem unsäglichen Text“. Laut und deutlich erklingt das Riff, Keith Richard (75) dreht sich auf die Bühne. Mick Jagger (75) tänzelt, bezwingend die Aufmerksamkeit auf sich, auf die Band, auf die Bühne ziehend, über Bühne und Ausläufer. Übrigens, mit dem ersten Riff geschieht noch etwas Unplanbares: Es erklingt – und noch ehe es verklingen kann, mit einem Ruck, stehen die Leute, die bis jetzt auf ihren Sitzplätzen saßen, wie auf Kommando wie ein Mann auf, der Band, die sie, Professoren neben Landarbeitern, Ärzte, Lehrer neben der Reinemachefrau, Enkel, Söhne, Väter, Großväter und die dazugehörigen Damen selbstverständlich auch hier zu einer generationslosen, klassenlosen Gesellschaft vereinte, auf, den alten Herren die Ehre zu erweisen. Hach, denkt man sich, manch eine der alten Damen mit Rollator wird wohl den Stones seinerzeit, also 1965, nachdem die „Waldbühne“ gänzlich zerstört war, unter dem damaligen „Bravo“-Spruch „heißer geht’s nicht!“ ins Hotelbett gekrochen sein. Egal. Es ist unglaublich, wieviel Spaß diese Musikanten der Sonderklasse gerade auch auf ihrer No-Filter-Tour miteinander haben.
Der Blick auf die überdimensionalen Leinwände zeigt, dass die Faltenlandschaften inzwischen über sämtliche Stones-Gesichter gewuchert sind. Für Musik wie Körperlandschaften gilt „No Filter“ gleichermaßen. Und bei aller Bewegungsbereitschaft braucht man auch schon mal kleine Verschnaufpausen, die auf intelligente Stones-Art eingebaut werden: Die Dame und Herren Mitkünstler auf der Bühne bekommen viel mehr Möglichkeiten als früher, ihr Können in Soli zum Besten zu geben. Eines der besten lieferte der frühere Miles-Davis-Bassist Daryll Jones, seit 1994, also seit „Voodoo Lounge“, mithin seit Bill Wymans Ausstieg, ständiges Mitglied der Rhythmussektion der Stones, zu „Miss you“ ab. Der Kritiker einer Berliner Zeitung, der den Titel sich verplempern sah, sollte sich die entsprechenden Alben kaufen, dann kann er Stones-Titel immer auf demselben Level hören. Bei ihren Konzerten, so also auch bei diesen, treten sie nicht als die Verwalter ihrer Songs auf, sondern erfinden sie sozusagen von Konzert zu Konzert neu. Das gibt diesen Songs diese wunderbare Eigenschaft, dass man als Hörer denkt, immer wieder völlig neue, doch altbekannte Klanggebilde zu hören.
Ronny Wood, der als jüngstes Mitglied der Truppe (71) auf der Bühne ständig für gute Laune sorgt, legt punktgenau inzwischen rattenscharfe Soli hin, begeistert hin und wieder auch mit Steel-Guitar-Einwürfen. Chuck Leavell, der Waldbesitzer an den Keyboards, den wir vor wenigen Jahren bei einem Sonderkonzert ganz nah erleben durften, zu dem die sachsen-anhaltischen Waldbesitzer anlässlich des 60. Geburtstages des früheren Stiftungsdirektors Thomas Weiß an den Wörlitzer See eingeladen hatten, Tim Rice, Karl Denson, die Saxophonisten der Band und nicht zu vergessen, Backgroundsängerin Lisa Fischers „Ersatz“-Sängerin Sasha Allen (Fischer tritt gerade in Georgien auf) – sie alle hatten ihre Auftritte. Sie alle hatten dabei die Sympathien der Band. Mit anderen Worten: Was die Band mitbrachte, um auf Bühne und im Stadion den Abend zwischen Musikern und mit ihren 67.000 Fans den Abend zu einer großartigen Messe werden zu lassen, war die übergreifende, überwältigende, ansteckende Spielfreude dieser Leute auf der Bühne, die in diesem Leben kein Abschiedskonzert mehr geben werden. Warum auch? Wenn jeder dieser Abende zu einer gemeinsam gefeierten Messe wird, besteht doch überhaupt kein Bedarf, die Bühne zu verlassen. Immerhin, auch ohne Rente, müsste keiner der Herren mehr arbeiten, wenn sie nicht solche Adrenalin-Junkies wären. Und gleiches kann man eigentlich nur all ihren Fans wünschen: Eine Arbeit zu haben, die sie nicht über das Aufhören nachdenken lässt. Was für eine Gnade! Was stand logischerweise am Schluss auf der Leinwand: BIS BALD.
Gerne wieder. Echt. Auch wenn es in Berlin keine Freude ist, nach dem Konzert wieder nach Hause zu fahren, weil es einfach an jeglicher logistischer Unterstützung fehlt. Aber es ist die Hauptstadt. Da finden sicher kaum Großveranstaltungen statt.
Ach so, und auch das sei angesichts der schwarz-weißen Zusammensetzung der europäischen Band mit den schwarzen musikalischen Wurzeln wieder gesagt, vor allem angesichts des Treffens des rechten Flügels wegen in einem der Gärten der „Gartenträume“ (da gibt es noch Diskussionsbedarf!): Im Übrigen sage ich: Dass eine Partei demokratisch gewählt ist, bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie auch demokratische Inhalte vertritt! Ludwig Schumann