Langsamer Leser: Der Unvollendete
Als Walter Ulbricht mir mit der Einrichtung des Bitterfelder Weges die Beatles aus dem Centrum Warenhaus wegnahm, stieß ich auf der Suche nach Ersatz auf J. B. Lenoir. Der unterdrückte nordamerikanische „Neger“ aus dem rückständigen Süden der USA, der sich aus Armutsgründen, wie ich damals, als Dreizehnjähriger, annahm, keine vollständige Beatband leisten konnte und sich von daher mit einem Drummer, wenn auch dem großen Freddy Below, begnügen musste, spielte auf der bei Amiga erschienenen „Alabama Blues“-LP einen Titel, der mich seinerzeit umhaute und auf der Stelle zum Blues bekehrte: „Mama, talk to your daughter“. So schlimm kann es also mit der Armut nicht gewesen sein. „Mama, talk to your daughter“ war ein Titel, den Lenoir 1954 erstmals, da noch unter dem Namen Lenore, veröffentlichte. 2003 eröffnete Robert Palmer sein umwerfendes Album „Drive“ mit einer ans Ekstatische grenzenden Urgewalt mit genau diesem Titel. Gehörte Palmer bis dahin zu den Musikern, die ich durchaus gern hörte, war er von nun an unentbehrlich in meinem musikalischen Kosmos. Im September 2003 unterbrach er weitere Schallplattenaufnahmen und reiste für zwei Tage nach Paris. So war es geplant. Er kehrte von dieser kurzen Stippvisite nicht zurück. Am 26. September 2003 starb er im Hotel an einem Herzinfarkt. Wie man sieht, liegt kein Zwang zur Erinnerung, etwa durch das Jubiläum eines Todestages, vor. Ich kann also nicht erklären, wieso ich gerade derzeit Platte auf Platte aus den Tiefen meiner Schallplatten- und CD-Regale ziehe. Vielleicht, weil es jetzt 30 Jahre her ist, dass mich 1987 ein Platten-Schwarzhändler mit einem erstaunlichen Robert-Palmer-Angebot in seine Sudenburger Wohnung locken wollte. Ich konnte ihm nicht folgen. 150 Mark der Deutschen Notenbank für eine Platte war völlig außerhalb meines Budgets, und hätte ich es investieren können, dann hätte ich die Rolling Stones bevorzugt. Palmer war für mich damals nicht uninteressant, aber reihenweise kitschig oder einfach stilistisch schwer verdaulich. Ich wollte Rock-Musik. Das konnte er, verließ das Raster aber immer wieder. Die Schönheit seiner Musik, die genaue Kalkulation beim Einsatz musikalischer Mittel die habe ich tatsächlich erst später schätzen gelernt. Dass Robert Allen Palmer weniger ein Rocksänger als ein Crooner, einer aber der Extraklasse war, ging mir noch später auf. Crooner, Sänger also, die mit Orchester oder Big Band Standards singen, wie Perry Como oder Tony Bennett im Amerikanischen – im Russischen gab es diese Spielart der Musik auch, der bekannteste russische Crooner war Muslim Magomajew (von ihm gibt es eine Amiga-Schallplatte!). Ironisch benutzte man dieses Wort für Schmalzsänger. Deswegen verwahrte sich beispielsweise Frank Sinatra dagegen, als Crooner bezeichnet zu werden. Aber die Denunziation als Schmalzsänger trifft die hohe Kunst des Croonings nicht. Robert Palmers bleibende Kunst lässt sich ohne diesen Begriff nicht zureichend erklären. Immer wieder fand er Titel, die er auf diese Weise vortrug. Auch seine Version des Dylan-Titels „I´ll be your baby tonight“ mit UB40 erinnert daran. Erklären lässt sich das einfach: Wer im Elternhaus unter dem Einfluss der Musik von Nat King Cole bis Otis Redding aufgewachsen ist, hat dabei auch seine musikalische Prägung erfahren, seine Vorlieben ausgebaut. Und Palmer hat diese Musik geradezu eingeatmet.
Erstmals aufgefallen ist er mir in einem Beat-Club, in dem er als Sänger, neben der Sängerin Elkie Brooks , der Band „Vinegar Joe“ auftrat, einer von den Kritikern geliebten, geschäftlich aber erfolglosen Band.
Palmers Solo-Debüt-Album „Sneakin’ Sally through the Alley” produzierte er mit diesem Allen-Toussaint-Titel als Single. Toussaint, der große Musiker, der sein Riesen-Archiv an Tonaufnahmen beim Untergang seiner Heimatstadt New Orleans während des „Katrina“-Hurrikans verlor. Geschäftlich war Palmers Werk leider ebenfalls nicht sehr erfolgreich. Aber begnadet. es klingt wirklich begnadet. In die Wiege, so schien es, war ihm der Erfolg ganz sicher nicht gelegt. Über Jahre musste er ihm hinterher laufen, bis ihm Gerechtigkeit widerfuhr. Begnadet, ich glaube, das ist der richtige Ausdruck für seine Musik, begnadet, wie sein Auftritt im Detroiter Taboo-Club mit James Brown oder die Fassung des Jagger-Richards Titels „Satisfaction“, den er mit Chaka Khan auf die Bühne brachte, übrigens mit Einblendung eines „Banning the bomb“-Plakates. Die Achtung, die Palmer auch unter schwarzen Musikern genoss, zeigt auf feine Art das „I-feel-good“-Duett mit James Brown, der schließlich dem Gast die Bühne überlässt, dass dieser seinen Smash-Hit „Addicted to Love“, begleitet von der streng rhythmisch orientierten James-Brown-Band, darbieten kann. Brown hört mit sichtbarem Vergnügen diesem Ausnahmesänger zu, dessen Interesse an der Musik von Beginn an vor allem dem Rhythmus galt. „Drive“ von 2003 ist schließlich die Meister-Platte. Hier ist es Palmer gelungen, auf ganz „schwarze“ Weise bekannte Bluestitel so zu minimieren, dass das Eigentliche, das Wichtige dieser Songs offenbart wird. Wer dazu die brutale Intensität dieses Mannes auf der Bühne genießen will, muss sich „Talk to your daughter“ anschauen, wie Palmer diesen Song in Tokyo präsentierte, mit Andy Taylor von Duran Duran und Nick Wood sowie der Sadistic Mika Band mit Koichi Korenaga.
Beeindruckt hat mich, ich gebe es zu, nicht zuletzt, sicher nach Stimme, Rhythmusgefühl, dieser obsessiven Bühnenleidenschaft auch, dass Palmer nie ohne perfekt sitzenden Anzug nebst Krawatte, eben wie die alten Crooner, auf die Bühne ging. Der „Rolling Stone“ kürte ihn nicht zu Unrecht zum bestangezogenen Pop-Interpreten. Da ging nicht jemand einfach auf die Bühne, sondern Palmer bezeugte dem Umstand gegenüber Respekt, dass er stellvertretend für eine große Sache auf der Bühne stand, nämlich für die großartigste Welt, der wir teilhaftig werden können, der Welt der Musik! Robert Palmer war immer ein Sänger mit ebendieser Haltung.
Warum ich, wie gesagt, gerade jetzt die alten Palmer-Platten aus den Tiefen meines Plattenschranks zerre? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es die Erinnerung an die J.B. Lenoir–Scheibe mit diesem umwerfenden Song „Mama, talk to your daughter“? Wobei meine Aufmerksamkeit heutzutage eher den wenig bekannten Titeln auf den Langspielplatten Palmers gilt, nicht den Hits. Da sind wunderbare Entdeckungen zu machen. Als gäbe es ein anderes musikalisches Leben neben den halt unverzichtbaren Hits zu entdecken. Vierzehn Jahre ist es her, dass er starb. Wer ist eigentlich dafür verantwortlich, dass man ihn kaum noch im Radio hört? Diese geradezu spielerische Interpretations-Bandbreite ist doch faszinierend. Seit vier Tagen höre ich nichts anderes als Palmer soulig, rockig, mit arabischen Anleihen, mit Ausflügen in die Karibik. Freilich, je mehr ich höre, desto mehr wächst das Gefühl, da musste einer gehen, der sein Werk noch nicht zu Ende gebracht hatte. „Drive“ oder „Rhythm and Blues“ sind zwei Scheiben, die Wegmarken sind. Aber das definitive Crooner-Album fehlte noch. Ich bin sicher, es wäre die dritte Wegmarke geworden. Ludwig Schumann