Langsamer Leser: Der immer falsche Sündenbock
Wie geht das zusammen? Selbst an der kleinen Dorfkirche zu Isterbies besagt ein Schild, dass die Restaurierung dieser auf der „Straße der spätgotischen Flügelaltäre“ stehenden Dorfkirche mit EU-Mitteln gefördert wurde. Eigentlich müsste daran stehen: Ohne EU-Mittel gäbe es diese Kirche nicht mehr. Da kann man durch das ganze Land fahren, aber niemand dankt es der EU, schlimmer: Niemand nimmt es wahr. Die EU ist nicht der gesamteuropäische Freund, der vieles möglich macht, er ist vielmehr der Feind, der keine krummen Gurken durchwinkt. Da fragt auch niemand, dass die Veranlasser dieser zugegeben idiotischen Maßnahme die Großhandelskonzerne sind, weil sich gerade Gurken besser packen lassen. Das Feindbild steht. Der Feind ist Brüssel, zumindest soweit die belgische Hauptstadt EU-Gebiet ist.
Die Briten buchstabieren gerade, wie bescheuert der Brexit ist, weil er nur Verlierer kennen wird. Und wer die EU als Watschenmann für die beängstigende Globalisierung mit ihren sozialen Verwerfungen in Schuld nimmt, geht über die Aufgabe eigenen Denkens den nationalistischen Schwärmern auf den Leim, die ihr Heil (pardon, das ergab sich so) in der Vergangenheit suchen. Ich würde den Antieuropawählern gern mal die Aufgabe geben: Sie kennen bestimmt Tage des Erfolges in der Vergangenheit. Versuchen Sie, diese zurückzuholen. Sie noch einmal wahr zu machen. Es wird ihnen nicht gelingen. Wir sollten die Fantasie anstrengen und aus Gegenwart Zukunft bauen. Ja, das wird schwierig. Das muss man wollen, das bedarf der Unerschrockenheit, und das bedarf einer Grundeinstellung, die davon ausgeht: Leute, ich kann etwas verändern. Ein Volk von Angsthasen wird über manches buchstäblich stolpern und keine Zukunft finden, weil Angst blind macht.
Ich sah dieser Tage den Film „Die Biermösl Blasn in Afrika“. Gerhard Polts Leib- und Magentruppe, schuhplattler- und alphörnerstark, reiste nach Südafrika, um dort ehemalige Goldminenarbeiter zu treffen, die einen ähnlichen Tanz entwickelt hatten. Beeindruckt hat mich die Beobachtung eines der Kinder der Gaudi-Truppe. Der etwa Zwölfjährige formulierte seine Beobachtungen in etwa so: Die Menschen hier kommen so fröhlich auf einen zu. Die sind sehr arm. Aber sie sind so voller Lebensfreude. Nicht so vermuffelt wie bei uns.
Ich fand das eine treffende Beobachtung dieses Jungen, dass, wenn man uns in Deutschland beschreibt, wir einen vermuffelten Eindruck machen. Wir wollen Gartenzwerge für Vorgärten, Lager für Kanaken, Ordnung, die gleichzusetzen ist mit hundertprozentiger Sicherheit. Also eigentlich eine Lagerhaltung für den deutschen Sicherheitsfanatiker. Mauer drum. Schützen an die Mauer. Auf alles schießen, was kommt. Kann mir mal einer erklären, wie uns da dieses unglückselige 1989 passiert ist?
Einer hat es unmittelbar nach der Wahl in Deutschland gewagt, Europa groß und schön zu malen: Emmanuel Macron, der französische Präsident. In eineinhalb Stunden skizzierte er vor Studenten der Pariser Sorbonne seine Vision einer Neugründung, ein „souveränes, vereintes, demokratisches Europa“. Er zeigte den jungen Leuten (und hatte dabei seine möglichen künftigen Partner in Deutschland im Auge, wohl wissend, dass die Jamaika-Koalition ein für diese Pläne schwieriger Partner würde) ziemlich ungeschminkt die Probleme auf, die die Politik momentan gerade nicht löst: Klimawandel, Energiewende, Terrorismus, Krise der Landwirtschaft, Digitalisierung, Erziehung, Lobbyismus. Macron stieß an, endlich die europäischen Streitkräfte aufzubauen, ein europäisches Büro für Asylfragen zu initiieren, eine gemeinsame europäische Geheimdienstakademie. Er plädierte für eine europäische Steuer auf Finanztransaktionen und eine Energiesteuer. Das Erasmus-Programm (der Studentenaustausch) müsse forciert werden, die Bürger sollen ihre Brüsseler Abgeordneten in transnationalen Listen wählen und Frankreich und Deutschland sollten baldmöglichst einen neuen Élisée-Vertrag unterschreiben, der diese deutsch-französische Zusammenarbeit symbolhaft bekräftigt. Ein Schlüsselsatz in Macrons Selbstverständnis ist: „Ich kenne keine roten Linien, ich kenne nur Horizonte.“ Das bezog sich nicht zuletzt auf die von der FDP formulierten roten Linien, was die europäische Finanzpolitik angeht.
Auf den großen Entwurf Macrons ist die deutsche Reaktion: Deutschland hält sein Geld zusammen. Was für eine große Idiotie, gehört Deutschland doch gerade zu den wirtschaftlichen Gewinnern der EU.
Der Philosoph Jürgen Habermas hat in einem lesenswerten Essay „… was das uns Deutsche wieder kostet!“ eingangs die Geschichte eines abendlichen Treffens des österreichischen Schriftstellers Robert Menasse mit einem deutschen Korrespondenten erzählt, der während des Gesprächs seinen Bericht aus der Frankfurter Redaktion mit der Bemerkung zurück erhielt: „Schreib nicht so kompliziert. Schreib nur, was das uns Deutsche wieder kostet.“ So macht man Stimmung gegen Europa. Hat sich die Redaktion in Franfurt am Main mal gefragt, wodurch sie Europa ersetzen will? Durch lauter kleine Nationalstaaten, die dann ohne jegliches internationales Gewicht unbeachtet in der Welt vor sich hindümpeln? Mit dem entsprechenden Wirtschaftsabbau, mit dem dazugehörigen Bildungsabbau, dafür aber als nationales Kulturerbe Pegida-Spaziergänge als eine Art Pfeifen im Wald?
Hier bietet Macron konkrete Visionen an: Es muss eine Politik gegen die fortschreitende Entsolidarisierung zwischen den nationalen Regimes geben. Er fordert die Einrichtung eines europäischen Staatsanwaltes für die Regeln des internationalen Handelsverkehrs, die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit muss sofort angegangen werden, finanziert beispielsweise durch eine Angleichung der Körperschaftssteuern in der Eurozone, die Angleichung der sozialpolitischen Regimes in Europa.
In Deutschland geht man mit der Rede so um, wie wir seit Jahren mit der gesellschaftspolitisch gefährlichen Spaltung in die ältere Generation, die nur kostet, gegen die jüngere Generation, die mit diesen Kosten belastet wird. Die Entsolidarisierung ist unser Credo. Wie die Griechen uns nur Unmengen Geld kosten – inzwischen aber deutlich wurde, dass der deutsche Fiskus Unsummen an der Griechenlandmalaise verdient hat. Es wird in der deutschen Politik nichts erklärt, aber auf Teufel komm raus gespalten nach dem alten Grundsatz „teile und herrsche“. Wie unser katholischer (das war auch so eine christliche Sekte, oder?) Ministerpräsident dazu aufruft, den Familiennachzug syrischer Flüchtlinge zu unterbinden. Ich würde ihm wünschen, dass er seine Frau und Familie für zwei Jahre irgendwo in Syrien weiß, aber nicht weiß, wovon sie da ihr Leben fristen sollen. Nein, das wünsche ich ihm natürlich nicht. Aber nur um seiner Familie willen. Wir haben, wenn ich es richtig sehe, auf keinen Fall mehr als 35.000 Flüchtlinge im ganzen Land, mit Nachzug vielleicht 40.000, vielleicht 50.000 Flüchtlinge. Will sagen, 1,81 Prozent der Gesamtbevölkerung machen dieses Land kulturell unbewohnbar, weil sie die Heiden zum Islam zwangsbekehren werden. Wer spaltet, sollte seinen Beruf als Politiker an den Nagel hängen, weil er nichts begriffen hat, außer idiotischem Geplapper vom rechten Rand nachzuhängen.
Das deutsche Echo auf Macrons Rede ist tatsächlich beschämend. Zumindest bis dahin. Habermas hat den Macronschen Habitus unter der Überschrift „Was aus dem Rahmen fällt“ auf drei bedenkenswerte Punkte gebracht:
1. Macrons Mut zur politischen Gestaltung
2. das Bekenntnis zur Umstellung des europäischen Eliteprojekts auf die demokratische Selbstgesetzgebung der Bürger
3. das überzeugende Auftreten einer Person, die der Gedanken artikulierenden Kraft des Wortes vertraut. Und überlegt, ob die deutsche Kanzlerin, „… und das ist die Frage, die mich bewegt, kann diese bemerkenswert kluge und gewissenhafte, aus einem protestantischen Pfarrhaus stammende, bisher vom Erfolg verwöhnte, aber auch nachdenkliche Politikerin wirklich ein Interesse daran haben, in dieser dann unrühmlichen Rolle (sollte sie das Macronsche Angebot nicht annehmen – L.S.) ihre dann 16 aktiven Jahre als Bundeskanzlerin zu beenden? … Oder wird sie allen denen zum Trotz, die jetzt schon über ihren Untergang raunen, Größe zeigen und über ihren Schatten springen?“
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir seit 1933 wissen, dass allein die demokratische Wahl einer Partei kein Ausweis für deren Demokratiefähigkeit ist. Es gibt dafür noch ein Gedächtnis. Ludwig Schumann