Langsamer Leser: Der eine Ausweg oder der andere …

„Herr, erhöre die Gerechtigkeit, merke auf mein Schreien. Vernimm mein Gebet, das nicht aus falschem Munde geht.“ (Psalm 17,1)

Ein seltsamer Ort, diese Kolumne, für oder in dieser Zeitung! Aber MAGDEBURG KOMPAKT ist doch ohnehin eine seltsame oder eher eine seltene Zeitung. Ein Ort für Botschaften. Also! Ach nein, ich will jetzt kein Wort über meine Bruderkirche, die katholische, verlieren, der es nicht gelingen will, sich aus dem Sumpf zu befreien, in den sie zu viele ihrer Amtsträger geführt haben. Dabei hat sie doch die Anleitung zur  möglichen Vergebung: Das Gestehen, die Reue, die Offenheit als Voraussetzung. Warum hat sie die Größe nicht? Peinlicherweise sind es ja gerade die afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Vertreter, die hier stoppen, deren Gebet aus dem „falschen Mund geht“.

Ich kann da nicht zu Gericht sitzen, sondern nur weinen über soviel Verstocktheit im Namen eines so weltoffenen Begründers und Predigers der  Nächstenliebe. Gut, das war jetzt mehr als kein Wort. Aber es ist trotzdem nicht mein Anliegen dieser Kolumne. Während ich schreibe, höre ich Haydns „Schöpfung“. Die Anregung, dieses wundervolle Oratorium wieder zu hören, verdanke ich dem Biederitzer Kantor, Kirchenmusikdirektor Michael Scholl, meinem verehrten Freund. Auch jetzt, in Erwartung einer Operation, ist sie mir ein großer Trost, ein gewaltiges Hörerlebnis. Diese Kraft und diese Schönheit, die Schöpfung musikalisch auszudrücken, hat letztlich nur Haydn erreicht. Selbst wenn Gott ihn sie, die Schöpfung, am 7. Schöpfungstag vollendet hatte – Albert Schweitzer ahnte: Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. Der Mensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen.“ Sagt mein Sohn Georg (42), Steinmetzmeister in Bremen, Skinhead aus der englischen Arbeiterjugendtradition: „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal darüber nachdenken würde, dass ich Frau Merkel vermissen müssen würde.“ Bei dem gegenwärtigen Personal bleibt ihm aber nichts anderes übrig. Sie hat viel versäumt, siehe die gelähmte Umweltpolitik. Aber sie gehört zu den selten intelligenten Politikerinnen, die Fäden nicht fallen lassen. Beispielsweise den Gesprächsfaden mit Putin. Die noch weiß, dass nur miteinander reden zu einem Ergebnis führt. Ansonsten sehen die Parteien aus wie das Dorf der Zwerge. Hört man eigentlich noch etwas von Herrn Spahn und seinem Konzept gegen den Notstand in der Pflege?

„Und der Mensch wurde zur lebendigen Seele...“, singt nun der Chor in Haydns „Schöpfung“. „Junge, ehe wir weiter politisieren: Vor mir liegt eine Operation. Eine solche hat zwei mögliche Ausgänge: Den, den ich erleben möchte, weil meine Neugier auf das Leben noch lange nicht gestillt ist und weil ich mit euch und meiner wunderbaren Frau erkunden will, wie spannend das ist, was vor uns liegt. Aber seid euch ebenso gewiss: Wird es der andere Ausgang, gehe ich ihm in Frieden entgegen. Ich durfte ein reiches Leben führen. Reich an Begegnungen, euch eingerechnet. Ich kann in Frieden gehen und ihr denkt daran, dass Erinnerungen ein fröhlicher Schatz sind, der euch eine fröhliche Traurigkeit schenkt. Wie es geschieht, ist es gut. Wir können uns dankbar sein. Und ich fühle mich ganz und gar behütet.” Ich glaube, sie haben es verstanden.

Ein Buch hat mich begleitet, neben den Psalmen: Roger Willemsens „Musik“. Natürlich hat es mit Jazz zu tun. Etliche der vorgestellten Stücke kann man als Jazz-Fan. Aufgrund der eigenen Biografie hat man sie anders gehört als Willemsen. John Coltranes wunderbare Stücke beispielsweise. Großartige, Grenzen sprengende, aber immer zutiefst religiöse Musik, oft jenseits aller Hörgewohnheiten. Lesen Sie das Buch nur, wenn Sie bereit sind, viel Geld für Musik auszugeben.

Natürlich will ich, was ich früher hörte, nun mit den Gedanken Willemens hören. Er verführt dazu, auch heute noch, im Tode zum Leben. In einem Duktus, den man in der deutschen Schriftstellerlandschaft erst einmal suchen muss, ganz abgesehen von einem Engagement, das den Leser zu Wiederholungshandlungen zwingt. Kluge Essays zur Begegnung von klassischer Musik mit Jazz schließen sich an. Sehr lesenswert der Essay über John Coltrane. Und immer steht der Hörtipp am Ende seines Textes. Ich denke, er hat auf diese Weise dem Jazz einen großen Dienst erwiesen. In der ihm eigenen gepflegten Sprache. Wunderbar, wenn es solche Bücher gibt, die einem die Welt des Jazz noch einmal erschließen.

„Ich aber will schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit. Ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde.“ (Psalm 17,15) – zitiert aus einer Taschenausgabe des Neuen Testaments und der Psalmen von 1934. Der Vater des Erfurter Seniors i.R. Andreas Eras trug dieses Buch durch den 2. Weltkrieg. Eras brachte es zu einem Besuch mit. Mit Notizen des Vaters darin und den Wortlauten der Gottesdienst-Agenda etc. Etwas, was der Vater immer zur Hand hatte und gebrauchte, in Momenten der Not und Freude.

Es hat mich sehr angerührt. Es ist eine Spur in eine Zeit, die davon erzählt, wie andere ihre Zeit – wie im 2. Weltkrieg – bewältigt haben. Es ist ein Buch alltäglich gelebter Hoffnung! Die wünsche ich Euch, meine Lieben. Die brauchen wir auch.

PS: Eine Bemerkung noch: Ich lebe im Vorfläming wahrlich in der tiefsten Provinz. Wenn aber ein mongolischer Schriftsteller, also Galsam Tschinag, einem Buch, das ich mit dem Maler Amonzo Amouzou Glikpa aus dem Togo machen durfte „Der bei den Ziegen saß“, die Weihe zugesteht, dass es „ein Meis-terwerk“ sei, darf man doch konstituieren, dass die Provinz, das Leben in ihr, nicht provinziell macht. „Unversehrtheit ist der Stolz der Provinz“ endet mein „magdeburger brevier“. Nie war mir der Satz so nahe wie heute, seit ich einem Innenminister wie Herrn Seehofer zusehen muss, wie er mehr über die Abschiebung von Menschen nachdenken lässt, als über Integration. Ein Volk steht unversehrt auf und will bleiben. Was für ein widerlicher Akt finsters-ter Provinzialität. Die Biodeutschen – ein Volk, das entstand, weil es in der Mitte Europas mit jedem durchziehenden Reitervolk mehr oder weniger freiwillig gevögelt hat, will nun rein bleiben. Kommt Euch da nicht auch das Lachen? Aus der Versehrbarkeit erwächst Intelligenz und Größe, die wir brauchen werden. Aus der Abgeschiedenheit, das wissen wir doch, entsteht lediglich Inzucht. Hat das auch etwas mit dem uralten Psalm 17 zu tun? Das wäre jetzt Ihre Denksportaufgabe. Manchmal – Quatsch – eigentlich immer – lohnt es sich, mal an den Wurzeln des plötzlich so geliebten Abendlandes nachzuschauen. Das wird unter Garantie manchen Liebhaber dieses Abendlandes dauerhaft verprellen. Man sollte eben nur lieben, wen oder was man gründlich kennt. Nur mal so als Tipp. Ludwig Schumann

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