Hengstmanns andere Seite: Kein Schiff wird kommen
Einer der vielen, unsäglichen Rechtschreibreformen der Deutschen Sprache ist es zu verdanken, dass man jetzt „Schifffahrt“, wie eben gelesen, mit drei „Ef“ schreibt. Als ich das letzte Mal mit einem Schiff gefahren bin, da schrieb man „Schifffahrt“ noch mit zwei „Ef“. Daraus lässt sich schließen: Ist wohl schon ein paar Donnerstage her. Ich erinnere mich trotz gehobenen Alters dennoch gut. Immer im Sommer tätigte die Familie Erich Hengstmann, also Vater, Mutter und drei männliche Kinder inklusive Oma und Opa mütterlicherseits einen sogenannten Ausflug. Und damit wir uns bei diesen Ausflügen nicht verliefen, war es stets dieselbe Route. Vom Magdeburger Hauptbahnhof, Personenzug zweiter Klasse zur Gartenstadt Möser. Dann per pedes durch den Wald mit Rast an der Quickbornquelle bis hin zum Schiffsanleger in Hohenwarthe.
Dort wartete vertaut der Schaufelraddampfer „Hermes“. Der riesige Schornstein der „Hermes“ signalisierte von weitem, dass eine Seefahrt lustig werden könnte. Die beiden überdimensionierten Schaufelräder der „Hermes“ wurden von riesigen Dampfmaschinen angetrieben. Wenn man Glück hatte, konnte man durch die offene Maschinenraumtür einen Blick unter Deck werfen. Dort schuftete ein schwitzender Heizer. Mit kohlenstaubverschmiertem Gesicht schippte er das Futter unter den Kessel. Das war immer ein Schauspiel besonderer Art. Trotzdem hätte ich nie mit dem Heizer tauschen wollen. Ich war doch damals noch klein und schwächlich.
Dann warteten alle auf das Abfahrtssignal. Der Kapitän betätigte das ebenfalls dampfbetriebene Schiffssignalhorn. Ein die Ohren betäubender Lärm zerriss die idyllische Stille in Hohenwarthe. Dann hieß es: „Leinen los!“, und die Schaufelräder taten, was ihnen aufgetragen war. Sie schaufelten quasi um die Wette und wühlten die gute alte Elbe auf. Braungelber Schaum war die sichtbare Quittung dafür. Der Dampfer begann stark zu vibrieren und nahm langsam Fahrt auf: Stromaufwärts, Richtung Magdeburg. Die Eltern und Großeltern nahmen auf dem freilichtigen Oberdeck Platz und ließen sich Kaffee und Kuchen munden. Ich aber stand die ganze Zeit an der Reling in Höhe des Führerstandes. Neidisch beobachtete ich den Kapitän, wie er mit fester Hand am riesigen Steuerrad die „Hermes“ auf Kurs hielt. Einmal nur, und wären es auch nur fünf Minuten gewesen, hätte ich gern an Stelle des Kapitäns das Steuerrad bedient. Aber ich war ja noch klein und schwächlich.
So begnügte ich mich mit Winken. Menschen, die am Elbufer standen, winkte ich zu. Wenn sie zurück winkten, kam ich in freudige Erregung. Ich glaube, ich war damals ein wenig „winksüchtig“. Aber ich dachte mir: Das übt! Ich betrachtete das Winken als Übung für die erste Mai-Demonstration in der Wilhelm-Pieck-Allee, als alle winkend an der Tribüne vorbei marschieren durften. Das gefiel mir gut. Allerdings nur da ich noch klein und schwächlich war.
Doch zurück zur „Hermes“. Der absolute Höhepunkt dieser Schiffsreise war, wenn sich eine Brücke näherte, also eine Brücke, die ein Elbufer mit dem gegenüberliegenden überbrückte, dann war „Action“ angesagt. Mit lautem Hupen des Schiffssignalhorns wurde mit Muskelkraft der senkrecht stehende Riesenschornstein mittels einer Stahltrosse in die Waagerechte bugsiert. Sonst hätte der Dampfer nicht unter der Brücke durchgepasst. Der nun austretende heiße Wasserdampf schoss nicht mehr in die Höhe, sondern verteilte sich flächendeckend auf dem Oberdeck. Viele Oberdeckler flüchteten dann ins Unterdeck. Dieses Schauspiel hätte kein Regisseur der Welt so perfekt inszenieren können. Dann erspähte ich die beiden Türme des Magdeburger Doms und wusste, dass meine ganz spezielle „Kreuzfahrt“ mit der „Hermes“ am Petriförder sein nicht gewolltes Ende nahm.
Ich bin an der Elbe aufgewachsen und habe einigermaßen Körpergröße erreicht. Die Elbe ist wie ich: Immer im Fluss. Mal Hochwasser und mal, so wie jetzt, fast ausgetrocknet. Wenn es meine Zeit erlaubt und meine Zeit wird immer unerbittlicher, dann nehme ich mir die Zeit und schaue auf die Elbe. Dann singe ich ganz leise wie einst Nana Mouskouri „Ein Schiff wird kommen“! Aber es kommt keines! Vor ein paar Jahren hatte ich Zeit und betrachtete mit großer Erwartung das Wasserstraßenkreuz bei Glindenberg. Die apostrophierte Leistung deutscher Ingenieurskunst. Milliarden gingen da den Bach, also die Elbe runter. Ich stand so mindestens gefühlte vier Stunden an diesem Kreuz in freudiger Erwartung, dass ein Schiff das Kreuz kreuzte. Doch ist es ein Kreuz mit dem Kreuz. Es kam kein Schiff. Hoffnungslos wollte ich das Kreuz verlassen, doch dann: Der Silberstreif am Horizont! Ein einsames Segelboot kreuzte ins Wasserstraßenkreuz. Die Crew des Einmasters winkte mir euphorisch zu. Ich winkte natürlich zurück. Wie damals auf der „Hermes“. Nur dass ich dieses Mal auf der anderen Seite war.
Zum Schluss noch einen vehementen Appell an alle Logistikexperten, welche die Elbe schiffbar machen wollen. Unsere Elbe ist der letzte Fluss in Deutschland, der noch naturbelassen, sprich nicht begradigt, ist. Die Elbe ist so alt. Man sollte sie nicht mehr aus ihrem natürlichen Bett erheben. Sie braucht ihre wohlverdiente Ruhe. Es sei denn, man lässt den Schaufelraddampfer „Hermes“ noch einmal erstehen. Ich bin mittlerweile vierfacher Großvater und für Ausflüge von Magdeburg über Möser nach Hohenwarthe durchaus bereit. Ahoi! Frank Hengstmann