Gedanken- und Spaziergänge im Park: Wer trägt die Schuld?

Zu Beginn unseres Pfingstspaziergangs traf ich auf einen Gerd, wie ich ihn selten kenne. Er schwieg und machte einen sehr bedrückten Eindruck. Schweigend ging er neben mir her und erst auf meine wiederholte Frage, was denn los sei, antwortete er zögerlich: „Manchmal frage ich mich, ob ich mit dieser Last, die man auf meine Schultern bürden will, noch weiter das Recht habe zu leben oder das Leben sogar noch zu genießen.“ „Was soll das denn bedeuten? Bist Du krank?“ fragte ich weiter. „Nein, krank bin ich nicht, aber ich bin ein alter, weißer Mann.“ „Na und, das bin ich auch.“ „Ja, aber neuerdings behaupten einige Leute, dass an dem ganzen Unglück dieser Welt die alten, weißen Männer schuld seien. Die alten, weißen Männer sind daran schuld, dass es Kriege gab und gibt, dass Hungersnöte auf dieser Welt existieren, dass eine Klimaveränderung stattfindet, dass Menschen in Armut leben, es eine Bevölkerungsexplosion gibt und was es sonst noch an Üblem in dieser Welt gibt. Schließlich gibt es ja für alles eine Ursache und irgendjemand muss daran schuld sein. Und das sind wir, die alten, weißen Männer.“ „Du glaubst doch solch einen Quatsch nicht etwa? Das ist doch einfach eine Behauptung für primitive Geister, sofern das Wort Geist hier überhaupt angebracht ist.“

„Natürlich glaube ich so etwas nicht. Das nützt aber gar nichts, wenn das immer wieder propagiert wird und es immer mehr Leute glauben. Schließlich gibt es genügend Menschen, die für scheinbar einfache Erklärungen ansprechbar sind.“ „Das ist wahr. In Deutschlands unseligsten Zeiten hatten wir das ja schon einmal. Damals hieß es, dass die Juden an allem schuld seien. Jetzt sind es nun die alten, weißen Männer. Genau damit entlarvt sich dieser Vorwurf als Ausdruck eines faschistoiden Denkens, das sich ja unter anderem dadurch auszeichnet, dass man eine bestimmte Menschengruppe zu dem Hauptbösewicht, zu den Sündenböcken für alles Übel erklärt.“ „Es ist aber nicht nur faschistoid, es ist auch sexistisch, da ein Geschlecht damit an den Pranger gestellt wird. Verrückt dabei ist nur, dass die Urheber dieser Anklage es weit von sich weisen würden, faschistoid oder sexistisch zu denken.“ „Da kann ich nur Botho Strauß zitieren, der sagte: wer die Methoden seines Gegners übernimmt – beginnt ihm zu gleichen.“ Wenn man bedenkt, dass in vielen Gesellschaften gerade die Alten geehrt wurden, so ist das doch ein beträchtlicher Wechsel im Denken. „Na, ganz neu ist das auch nicht“, sagte Gerd. „Ausgerechnet in der demokratischen Vorzeigegesellschaft des antiken Athens wurden alte Männer ausgegrenzt: Wer das sechzigste Lebensjahr erreichte, wurde bei öffentlichen Ämtern nicht mehr berücksichtigt. Auch privat hatten sie nicht mehr viel zu melden: In der Familie war er nicht länger das Oberhaupt, sondern musste diese Rolle an seinen ältesten Sohn abgeben.“

Aber dann begannen wir diese Verurteilung einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und uns die Alternativen dafür anzusehen. Zuerst diese ganzen alten, weißen Männer, denen angeblich die Welt ihr Unglück zu verdanken habe. Wer waren oder sind denn diese Gedanken und Taten bestimmenden weißen, alten Männer? Goethe, Lessing Immanuel Kant, Hermann Hesse, Thomas und Heinrich Mann, Stefan Zweig und Arnold Zweig, um nur einmal die literarischen Größen auf der deutschen Seite zu nennen. Wenn wir es auf die Welt ausdehnen würden, würde der Pfingstsonntag wohl nicht reichen. Oder Beethoven, Bach, Händel in der Musik. Nehmen wir auch noch die Wissenschaft dazu: Einstein, Planck, Alexander Fleming, der Entdecker des Penicillins, Leibnitz oder Humboldt und, und, und. Die wichtigen Philosophen von den alten Griechen bis in die Neuzeit wollen wir uns jetzt mal ersparen. Alle diese alten, weißen Männer sollen die Übel dieser Welt maßgeblich verursacht haben? Wie dumm ist das doch. Aber wie sieht es bei denen aus, die versuchen an den Rädern der Geschichte zu drehen, bei den Politikern? Willy Brandt oder Adenauer? Gorbatschow, Helmut Schmidt? Zugegeben, diese Aufzählung nennt nur positive Namen. Negative gibt es auch, aber die beschränken sich nicht nur auf alte, weiße Männer, sondern diese gibt es wie die positiven Beispiele in jeder Menschengruppe.

Was wären denn die Alternativen? Da könnte man theoretisch mehrere Gruppen bilden. Zuerst die der jungen, weißen Männer. „Manchmal greifen auch diese in die Menschheitsgeschichte ein“, sagte ich. „Allerdings zeichnet sich das jugendliche Denken eher durch Radikalität aus als das der Alten.“ Gerd lachte: „Dazu kann ich dir passende Beispiele geben: Hitler war gerade 30, als er beschloss Politiker zu werden. Goebbels war erst 29, als er 1926 Gauleiter von Berlin wurde, Himmler wurde schon mit 20 zum Reichsredner der Partei ernannt und von Schirach war erst 21, als er 1928 Reichsstudentenführer wurde. Also von Abgeklärtheit keine Spur. Und das sind nur die Nazis, auf den Seiten anderer radikaler Bewegungen war es ähnlich. Genosse Stalin wurde mit 21 Berufsrevolutionär.“ „Gut, nächste Alternative: alte, weiße Frauen.“ „Da nenne ich nur die Namen Margarete Thatcher oder Theresa May, um aktuell zu sein, meinetwegen auch noch Claudia Roth. Aber ob die nun zu der Verbesserung der Welt beigetragen haben, das wird erst die Zukunft zeigen.“

Doch dann kamen wir auf den Gedanken, dass die wirkliche Alternative zu alten weißen Männern ja die jungen, farbigen Frauen wären. Aber das ist eine ganz traurige Geschichte, denn die Angehörigen dieser großen Menschengruppe sind vielerorts die wirklichen Opfer – aber nicht von alten, weißen Männern! In verschiedenen afrikanischen Ländern werden diese von alten, farbigen Frauen beschnitten und der sexuellen Lust beraubt. Das auch verfilmte Buch „Die Wüstenblume“ von Waris Dirie schildert diese Schicksale eindrucksvoll. In anderen Ländern, wie zum Beispiel Afghanistan, sorgen Gruppierungen von alten farbigen Männern dafür, dass sie von der Schulbildung ferngehalten werden. Dort und auch in anderen Ländern werden sie zum Teil schon in jungen Jahren zwangsverheiratet und bekommen gerade in afrikanischen Ländern so viele Kinder, dass sie überhaupt keine Chance haben, in das Weltgeschehen einzugreifen, wenn man nicht berücksichtigt, dass vielleicht diese hohe Vermehrungsrate mit allen sekundären und tertiären Folgen der Überbevölkerung ein erheblicher Eingriff in das Weltgeschehen ist. Große Ausnahme und ein herausragend positives Beispiel aber ist die in Somalia geborene und jetzt  in den Niederlanden lebende Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali, von deren Tatkraft man sich viele wünschen würde.

Bliebe noch die Gruppe der alten, farbigen Männer: Ja, positives wie Martin Luther King, Neruh oder Mandela, aber auch im Gegensatz dazu die Diktatoren Assad in Syrien, Hussein im Irak, Gaddafi in Libyen oder das Regime der Mullahs im Iran. Das kann wohl kaum der Wunschtraum der Verächterinnen der alten, weißen Männer sein. Gerd schien getröstet und wir einigten uns darauf, dass es grundsätzlich falsch ist, eine große Gruppe der Menschheit undifferenziert als die Übeltäter und als ein Unglück für die Welt anzuprangern und beschlossen, eine gute Flasche Rotwein auf das Wohl der alten, weißen Männer – uns natürlich eingeschlossen – zu trinken. Paul F. Gaudi

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