Gedanken- und Spaziergänge im Park: Austeilen ohne einzustecken

Leben wir in einem Zeitalter der Empfindsamkeit?“, fragte mich Gerd. „Ist das eine neue Kunstrichtung?“ „Nein, ich meine eher, wie Politiker oder Journalisten sich immer über sogenannte Hassbotschaften auf ihrem Twitter oder Facebook beschweren.“ Ich gab ihm in der Sache recht, korrigierte ihn aber insoweit, dass er wohl Empfindlichkeit und nicht Empfindsamkeit meint und fragte ihn nach einem Beispiel. Er nannte eine Frau Diekmann, die aus nicht näher erkennbaren Gründen „Nazis raus“ gezwitschert hatte. Es blieb offen, ob sie dabei jemanden in ihrer Familie oder in einer Gaststätte oder in einem Hotel meinte. Sie erhielt als Antwort die Frage, wer denn ein Nazi sei. Darauf antwortete sie: „Jeder, der nicht grün wählt!“ Und klagte dann, dass sie darauf jede Menge Hassbotschaften bekommen habe. Nun war das ja auch eine ausgesprochen dümmliche Antwort, die man einer Halbwüchsigen als Flapsigkeit hätte durchgehen lassen, aber doch nicht einer Korrespondentin des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, wo sie doch meinungsbildend wirkt. Man stelle sich vor, ein CDU-Abgeordneter hätte auf die Frage, wer ein Kommunist sei, mit „jeder, der nicht CDU wählt“ geantwortet. Da wäre was los gewesen in der Presse! Ich ergänzte: „Oder wenn ein AfD-Anhänger auf die Frage, wer ist Islamist, mit „jeder, der nicht AfD wählt“ reagiert hätte.“ Wir waren uns einig, dass in diesen Fällen die Presse solche Botschaften eindeutig verurteilt hätte. Doch bei Frau Diekmann war man mitleidiger. Aber Gerd hatte ein weiteres Beispiel parat: Frau Knobloch, die ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland redete kürzlich im bayerischen Landtag anlässlich des Holocaustgedenktages. Dabei griff sie die AfD frontal an, beschwerte sich jedoch Tage später in einem Interview, dass sie „fast im Minutentakt“ über das Internet angegriffen werde. „Und so findet man es bei vielen Politikern, die gerne kräftig austeilen, sich aber über entsprechende Reaktionen beschweren und eine allgemeine Verwahrlosung beklagen“, sagte Gerd.

Ich musste lachen, weil mir ein albernes Gedicht einfiel, das vermutlich schon im Ersten Weltkrieg entstanden und im schlechten Deutsch geschrieben war. Es trägt den Titel „Das Handgranat“. Da lauten die ersten Zeilen: „Schmeißt man selber, macht das Spaß, schmeißt der Feind, wie gemein ist das.“ Gerd grinste und stimmte mir zu, dass diese Zeilen das Verhalten mancher Leute in der Öffentlichkeit treffend karikiere. Es sei schon interessant, dass Leute, die Wohlverhalten einklagen, selbst dieses nicht unbedingt an den Tag legen würden. Wie zum Beispiel Frau Nahles, die am Abend nach der krachenden Niederlage bei der letzten Bundestagswahl im Fernsehen verkündete: „und ab morgen gibt‘s in die Fresse!“ Was natürlich nur eine leere Versprechung war, denn Monate später umarmte man diejenigen, denen man es in die Fresse geben wollte. Oder der SPD-Bundestagsabgeordnete Kahrs, der auf der Plenarsitzung in Richtung des AfD-Abgeordneten Gauland sagte: „Hass macht hässlich, schauen Sie doch in den Spiegel!“ Das ist ganz schön schlimm, oder?

Ich blieb bei dem Stichwort Hass hängen. Wie sich Austeilende über Reaktionen beschweren und sie als Hassbotschaften klassifizieren. „Ich würde gern mal die Reaktionen auf die Botschaft von Frau Diekmann sehen. Wirkliche Hassbotschaften dürften sicher nicht die Mehrheit sein. Sondern manches Kritische über diese alberne Bemerkung und manches, was Wut und Ärger über ihren Satz ausdrückt. Aber wirklichen Hass – der dürfte selten sein.“ Der Ausdruck Hass wird in öffentlich-rechtlichen Medien sowie in der Presse inflationär und falsch gebraucht. In den überwiegenden Fällen geht es nämlich gar nicht um Hass, sondern um Kritik, Wut oder Ärger. Und das ist etwas ganz anderes. Wut und Ärger sind Reaktionen auf etwas, was uns stört oder verletzt. Das sind keine andauernden Gefühle, sondern momentane. Im Gespräch wird man etwas lauter oder schimpft sogar, macht sich Luft und oft ist es dann schon gut. Nicht selten ist diese Reaktion auch mal kräftiger, als es dem Anlass gebührt. Jeder kennt so etwas. Es sind kurze Gefühlsentladungen, danach fühlt man sich (manchmal) besser. Im elektronischen Zeitalter macht man das nun über solche Online-Abfallgruben wie Facebook oder Twitter.

Hass ist etwas ganz anderes. Hass ist ein sehr starkes, unser Handeln beeinflussendes, rational meist nicht erklärbares Gefühl. Genau wie übrigens auch Liebe – allerdings im Gegensatz zu ihr mit negativem Vorzeichen. Hass ist nicht momentan oder reaktiv, sondern er ist meist vor längerer Zeit entstanden. Manchmal aus einem tiefen Gefühl der Benachteiligung heraus, manchmal wurde er durch Propagandisten, Ideologen oder Machthaber in unsere Psyche gepflanzt. Wut und Ärger mögen nicht immer richtig sein, aber sie sind rational erklärlich. Die starken Gefühle Hass und Liebe sind irrational, d.h. so richtig können wir es nicht erklären, warum wir gerade diesen Menschen lieben oder hassen. E.s ist halt so. Es bedarf im Gegensatz zu Wut und Ärger keines besonderen Anlasses. Dennoch bestimmen gerade diese Gefühle unser Leben nachdrücklich. Das Schlimme ist, dass Menschen über Gefühle manipulierbar sind. Gerade in Diktaturen werden Gefühle gern missbraucht. Hass auf Juden unter den Nazis, der Hass auf Klassenfeinde bei Kommunisten, die unverbrüchliche Liebe zur Sowjetunion oder zu Führern Hitler, Stalin, Mao, Kim Jong-un usw.

„Da wir gerade bei Manipulationen sind“, unterbrach mich Gerd: „Ich glaube, die meisten öffentlichen Medien haben Standardfeindbilder, von denen sie nicht gern ablassen. Zum Beispiel Trump, Orbán, den österreichischen Bundeskanzler Kurz oder Polen. Nimm einmal Trump: alles kann er nicht falsch gemacht haben, denn die amerikanische Wirtschaft ist nicht im Abwärtstrend. Er ist der erste Präsident, der Truppen aus Afghanistan oder Syrien abziehen will. Er ist auch der Erste, der mit dem nordkoreanischen Diktator versucht zu verhandeln. Gut, was rauskommt weiß man nicht, aber es ist ein Versuch. Und sein Spruch „America first“ – für den ist er gewählt worden. Andere Staatsoberhäupter werden ebenfalls dafür gewählt – sofern es freie Wahlen gibt – dass sie für ihr Land das Beste tun. Meinst du Macron in Frankreich handelt anders? Er sagt es nur nicht so laut. Auch Deutschland besteht auf die Gaspipeline Nordstream 2, weil sie für uns günstig ist, trotz der Gegnerschaft in der EU. Und die Länder, die gegen diese Pipeline sind, denen geht es um Durchleitungsgebühren, die ihnen entgehen werden.“ „Ja, das mag so sein. Ich habe noch zwei alte Freunde in Ungarn, mit denen ich hin und wieder telefoniere. Die finden Orbáns Politik gut. Sie meinen, dass etwa 60 Prozent der Ungarn dafür und 40 Prozent dagegen sind. Das sind Verhältnisse, wie man sie in anderen europäischen Demokratien ebenso findet. Auch der österreichische Bundeskanzler Kurz hat eine Mehrheit hinter sich. Aber berichtet wird über die USA, über Ungarn oder Österreich oft nur negativ. Erfolge und Positives aus diesen Ländern – was es zweifelsfrei auch gibt – hören wir meistens nicht. Da musst Du schon im Internet suchen.“ „Ja, es gibt halt Schwierigkeiten mit der Wahrheit, das wusste schon Pontius Pilatus als er fragte: Was ist Wahrheit? Das zeigt übrigens, dass er ein philosophisch denkender Mensch war. Von verschiedenen Standpunkten aus gibt es offensichtlich verschiedene Wahrheiten. Deshalb wird heutzutage besonders hervorgehoben, dass ein Journalist oder ein Politiker Haltung zeigen solle.“ „Haltung, das kenne ich noch aus DDR-Zeiten. Man nannte das auch Parteilichkeit.“ „Genau, wenn man die richtige Anschauung hat, dann weiß man, was die richtige Wahrheit ist, egal was wahr ist.“

„Du meinst, die entscheidende Frage lautet heute: Bist Du für oder gegen rechts?“ „Manchmal kommt es einem so vor. Erinnerst du dich noch an 1953, die Zeit um Stalins Tod? Wir waren damals Konfirmanden. Es war erschütternd, als in der jungen Gemeinde abends die großen, von uns bewunderten Abiturienten weinend und verängstigt ankamen. Sie waren zuvor auf einem FDJ-Tribunal in der Schule. Dort wurden sie gefragt: Bist Du für oder gegen den Weltfrieden? Wenn sie dann antworteten, dass sie natürlich für den Frieden seien, wurde ihnen gesagt, dass das nicht stimmen könne. Denn wenn sie für den Frieden seien, könnten sie nicht in der Jungen Gemeinde sein. Keine Gegenrede, keine Erklärung wurde angenommen. Manch einer von ihnen verschwand noch in derselben Nacht oder in den  nächsten Tagen in Richtung West-Berlin. So einfach wurde damals geklärt, was richtige Haltung ist!“ „Da fällt mir außerdem ein: Als der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel in der Türkei verhaftet wurde, gab es erfreulicherweise eine große und letztlich erfolgreiche Protestbewegung für seine Freilassung. Das war gut so. Seit Monaten ist in Venezuela ein deutscher Journalist namens Billy Six, wie die „Neue Züricher Zeitung“ berichtete, vom dortigen Geheimdienst verhaftet worden. Und gibt es eine Protestbewegung? Nein. Billy Six hat einen großen Makel. Im Gegensatz zu Yücel war er einmal in der Jungen Union und in der CDU und – was ganz schlimm ist – er hat mal in der Wochenzeitung „Junge Freiheit“ veröffentlicht. Mit so einer Haltung verdient man offenbar keine Solidarität.“ Nachdenklich und schweigend gingen wir nach diesem Gedankenaustausch jeder seines Weges. Paul F. Gaudi

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