Gedanken- und Spaziergänge im Park: 1918
Am Sonntag im Rotehornpark bewunderten Gerd und ich die Laubfärbung und freuten uns, dass anscheinend der größte Teil der Bäume die lange Trocken- und Hitzeperiode dieses Sommers gut überstanden hatte. „Wer breit und tief wurzelt lebt länger“, sagte Gerd. Ich antwortete: „Wie gut, dass Du damit nicht Heimat oder Volk gemeint hast!“ „Nein“, erwiderte er und überlegte, „aber vielleicht wäre es gar nicht so falsch.“ Unser weiteres Gespräch drehte sich dann um den 11. November, den 100. Jahrestag der Unterzeichnung des Waffenstillstandes in Compiegne, der das Ende des Ers-ten Weltkrieges – jedenfalls in Westeuropa – bedeutete.
Anderenorts, ostwärts, wurde ja fleißig weitergekämpft. Gerd erzählt von seiner Reise durch Belgien, genauer gesagt durch Flandern. Die vielen Soldatenfriedhöfe der gefallenen Franzosen, Engländer, Kanadier und auch der Deutschen hatten ihn sehr beeindruckt. Beeindruckend erlebte er den deutschen Soldatenfriedhof in Vladslo, auf dem die Plas-tiken „Trauerndes Elternpaar“ von Käthe Kollwitz stehen und wo deren Sohn Peter begraben ist. Er zeigte mir ein Bild davon. Man sieht eine Frau, die von großem Schmerz und vielleicht auch von Reue tief gebeugt ist und einen Mann in fast trotziger und auch verbitterter Haltung. Beide Statuen lassen den Betrachter nicht los, bewegen ihn tief und lösen viele Gedanken und Gefühle aus. Gerd berichtete davon, wie vorzüglich diese Friedhöfe gepflegt sind und dass es keinerlei Verunstaltungen von Sprayern oder Vandalismus gab. „Na, das ist doch wohl selbstverständlich, oder?“ „Dort ja“, erwiderte er. „Bei uns etwa nicht?“ „Nicht überall“, war seine Antwort und er erzählte, dass er auf der Webseite von indymedia – er stöbert gern im Internet – im Juni gelesen hatte, dass eine Gruppe in Augsburg sich damit brüstete, auf einem Friedhof ein Kriegsdenkmal „korrigiert“ zu haben, indem sie es beschmiert hätte. Und er zitierte von der gleichen Webseite die Mitteilung einer Gruppe mit dem klangvollen Namen „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“, dass sie im Wendland mehrere Kriegerdenkmäler attackiert habe und dazu aufforderte, es ihnen gleich zu tun und bis zum Volkstrauertag am 18. November auch in der Altmark „möglichst viele dieser Betonklötze, Steinsoldaten, Eisernen Kreuze und Stelen mit Farbe anzugreifen oder ganz zu zerstören“.
Und er fuhr fort: „Wenn Du dann in Flandern oder in Frankreich erlebst, wie ehrfurchtsvoll dort mit diesen Denkmälern und Gräbern umgegangen wird, auch mit denen des früheren Feindes, dann frage ich mich, warum das hierzulande nicht auch selbstverständlich sein kann.“ „Vielleicht dürfen Verlierer nicht trauern?“ Wir fragten uns, was wohl in den Köpfen dieser vermutlich meist jungen Leute vorgeht. Diese Soldaten waren ihre Urgroßväter, ihre Großväter oder andere Verwandte. Warum tun sie das? Das waren 1914 viele junge Menschen, vielleicht so alt wie sie heute, die in den Krieg mussten. Wir kennen die Bilder von anscheinend begeisterten Männern, die an die Front gingen oder gegangen wurden. Bestimmt waren nicht alle so erfreut. Es gab unter den Älteren genügend Familienväter, die Frau und Kinder verlassen mussten oder auch Bauern, die kurz vor der Ernte eingezogen wurden. Kaum anzunehmen, dass die begeistert waren.
Aber unter den Jüngeren war tatsächlich eine Begeisterung vorhanden. Allerdings nicht nur auf deutscher Seite. Auch die Franzosen waren jahrelang mit dem Gedanken an die Revanche für Niederlage und Gebietsverlust 1871 in der Schule erzogen worden. Von Filmen und Berichten wissen wir, dass junge Kanadier und Australier nach Europa in den Krieg wie zu einem sportlichen Wettkampf zogen und sich freuten, der heimatlichen Langeweile zu entfliehen. Ja, sie alle haben sich geirrt und die meisten haben es sicherlich bitter bereut, sofern sie es überhaupt überlebten. Aber es war ja nicht nur die Jugend, die meinte in einen kurzen Krieg zu ziehen und danach eine bessere Welt vorzufinden. Nein, auch viele der klugen Köpfe fanden diesen Krieg notwendig. Man lese einmal das Gedicht von Gerhart Hauptmann „Ährenlese“ oder den Essay von Thomas Mann „Friedrich und die große Koalition“, wo der Beginn des Krieges gerechtfertigt wird. Noch deutlicher wird er 1915 in einem Brief an eine schwedische Tageszeitung, wo er schreibt: „Warum hat Deutschland ihn (den Krieg) begrüßt und sich zu ihm bekannt, als er hereinbrach? – Weil es den Bringer seines Dritten Reiches in ihm erkannte. – Was ist denn sein drittes Reich? – Es ist die Synthese von Macht und Geist – sie ist sein Traum und Verlangen, sein höchstes Kriegsziel …“ (Zitat Ende). Ja, das ist wirklich von Thomas Mann, man mag es kaum glauben.
Auch Käthe Kollwitz irrte sich zu Kriegsbeginn. Ihr jüngerer Sohn Peter, den sie dann 18 Jahre später mit den beiden Statuen so bewegend betrauerte, wollte unbedingt 1914 freiwillig in den Krieg ziehen. Allerdings brauchte er dazu die Einwilligung seines Vaters, der sie ihm anfangs verweigerte. Erst auf Bitten seiner Frau gab er dem Wunsch des Sohnes statt. Das hat sie sicher sehr bereut. Tatsächlich hatten viele die Illusion, dass durch den Krieg die verstaubte bürgerliche Welt verändert würde. Aus den Briefen und Tagebüchern damaliger Zeit wissen wir, dass alle Seiten an einen kurzen schnellen Bewegungskrieg glaubten, so wie die Deutschen es von 1864,1866 und 1871 kannten. Das war ein großer Irrtum. Niemand von den beteiligten Völkern hatte auch nur die geringste Vorstellung von einem jahrelangen Stellungskrieg mit einer noch nie da gewesenen Technik, mit tage- und wochenlangen Kanonaden und Giftgas. Es ist anzunehmen, dass auch die Generalsstäbe der beteiligten Nationen selbst nicht die geringste Ahnung von einer solchen Kriegsführung hatten.
Zu Beginn des Krieges erkundeten noch Reiterabteilungen mit Lanzen beider Seiten die gegnerischen Stellungen! Das änderte sich dann schlagartig. Es waren nicht nur die deutschen Soldaten, die vom Krieg die Schnauze voll hatten. Die Russen sowieso. In der französischen Armee führten Meutereien 1917 beinahe zum Zusammenbruch der französischen Landstreitkräfte. Von Ende April bis Anfang Juni war ein großer Teil aller französischen Divisionen von Meutereien erfasst, insbesondere solche der Infanterie. Es gab Tausende Prozesse vor Kriegsgerichten und über 550 Todesurteile, von denen aber wohl nur ein Zehntel vollstreckt wurde; als Zwangsarbeiter oder wieder an die Front geschickt waren die Verurteilten wertvoller. Als im Juni 1917 die ersten amerikanischen Soldaten in den Krieg eingriffen, schöpften die Franzosen wieder Hoffnung.
Wir sollten diese Denkmäler und Friedhöfe als Mahnungen achten – auch wenn sie im damaligen Stil der Zeit oft heroisch gestaltet wurden. Vielleicht war der Heroismus ein hilfloses Mittel des Trostes für die Hinterbliebenen, um sich nicht sagen zu müssen, dass alles ein grauenhafter Irrtum war. Was nicht falsch wäre – aber das schon kaum zu Ertragende dann völlig unerträglich macht. Die Denkmäler sollten Gedenkstätten bleiben, die man achtet und wo man trauern kann. Gerd fragte mich: „Weißt Du noch, wie sich 1984 Francois Mitterrand und Helmut Kohl vor dem Kriegerdenkmal in Verdun spontan bei der Hand hielten? Manche haben sich darüber lustig gemacht. Aber ich hielt es für eine gute und passende Geste.“ Ich konnte ihm da nur beipflichten. Für viele englische, französische und amerikanische Politiker ist es selbstverständlich, an solchen Jahrestagen Soldatenfriedhöfe zu besuchen und an die Toten zu erinnern. Merkel fährt nach Paris, um dem Kriegsende und der 15 Millionen Toten zu gedenken, Steinmeier aus dem gleichen Anlass nach London. Aber wer gedenkt in Berlin? Man hat den Eindruck dass dieses Bedürfnis bei deutschen Politikern nicht so ausgeprägt ist. Geistert da immer noch die Vorstellung von der alleinigen deutschen Kriegsschuld in ihnen? Die müsste ja wohl spätestens seit dem Buch „Die Schlafwandler“ von Christopher Clark ausgeräumt sein. Die ersten Soldaten, die nach der deutschen Generalmobilmachung am 1. August 1918 fremden Boden betraten, waren übrigens russische Kavalleristen in Ostpreußen. Und die 15 Millionen Gefallenen waren Opfer – keine Schuldigen. Paul F. Gaudi
Trauerndes Elternpaar heißt eine von der deutschen Malerin, Grafikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz geschaffene zweiteilige Figurengruppe, die deren 1914 im Ersten Weltkrieg gefallenem jüngsten Sohn, dem 18-jährigen Peter Kollwitz, gewidmet ist. Die Figuren stehen auf dem Soldentenfriedhof Vladslo nahe Ploegsteert in Belgien.