Gedanken- & Spaziergänge im Park:1968 – Ist das ein Feiergrund?

Die Altachtundsechziger werden 50 Jahre alt und Berichte dazu in der Presse, im Radio und im Fernsehen werden häufiger. Gibt es da wirklich etwas zu feiern? Angeblich hätten sie die vermuffte Bundesrepublik kräftig durcheinandergebracht und durch ihre Aktionen reformiert. Die sexuelle Revolution, eine Hochschulreform, eine völlig neue Jugend- und Diskussionskultur wären ihre Verdienste, um nur einiges aufzuzählen. Ohne die Achtundsechziger wäre das alles nicht geschehen bzw. nicht in Gang kommen. Aber stimmt das wirklich? Die Veränderung der Jugendkultur und des allgemeinen Geschmacks in Bezug auf Kleidung und Musik hatte schon viel früher eingesetzt. Denken wir nur an die Beatles oder an die Rolling Stones. Noch früher gab es den Rock ‚n‘ Roll und seine kulturellen Randerscheinungen. Und was die sexuelle Revolution betrifft: die gab es schon mindestens zwei Jahre vorher in der Hippiekultur und bei „flower power“. Aber auch da waren die Jugendlichen in der DDR sicherlich genauso weit. Wer in den sechziger Jahren an der Ostsee war und an den FKK-Stränden, der weiß, dass es keine falsche Prüderie gab. Vielleicht kennt jemand noch aus dieser Zeit den Zeltplatz K in Prerow und die Abende im Café Helgoland? Die jungen Frauen dort suchten sich ihre Partner selbst aus und wurden nicht Opfer von irgendwelchen Machos. Ich denke von dieser Art der sexuellen Revolution konnte mancher im Westen nur träumen. Dagegen hatte die sexuelle Befreiung im Westen ausgesprochen maskuline Macho-Eigenschaften. Der damals kolportierte Spruch „Wer zweimal mit derselben pennt gehört schon zum Establishment“ dürfte wohl kaum weiblichen Wünschen und Wesen entsprochen haben. Sogar sexuelle Handlungen mit Kindern wurden propagiert und tatsächlich im Kursbuch 17 (1969) des Suhrkamp Verlages psychoanalytisch verbrämt beschrieben. Die modische neue Jugendkultur färbte natürlich auch auf die DDR ab. Jeans und lange Haare wurden immer häufiger. Lange vor 68, schon 1965, führten Neues Deutschland und Junge Welt einen Propagandakrieg gegen die Langhaarigen. Ich erinnere mich noch an den Artikel im Eulenspiegel mit dem Titel „Kamm drüber“.  In den Schulen gab es Repressionen gegen die „Gammler“. Bereits in der Mitte der sechziger Jahre begann man in der BRD auch mit der Hochschulreform. Sie war 1968 zwar noch nicht vollendet, aber der Anfang wurde eben schon vorher geplant und durchgeführt. Wo liegt also der Verdienst der Achtundsechziger? Wenn sie wirklich durch etwas berühmt wurden, dann durch ihre Lautstärke, ihre Krawalle und ihre revolutionäre Attitüde.

Wenn ich heute überlege, wie ich das damals von hier aus erlebt habe, dann habe ich zwiespältige Gedanken. Worüber wir hier staunten und die Westdeutschen auch beneideten, das war die freie Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit. Davon konnten wir in der DDR nur träumen. Aber was uns doch sehr skeptisch machte, das waren die Inhalte und auch die Formen dieser Diskurse. Irgendwie sahen wir fassungslos die Bilder, wie Massen Jugendlicher, in der ausgestreckten Hand die rote Mao-Bibel – eines der dümmsten Bücher der Weltgeschichte – und Ho-Chi-Minh skandierend die Straße entlang trabten. Und wie sie für den Marxismus Leninismus schwärmten und eine kommunistische Weltanschauung vertraten. Ich erinnere mich noch, wie wir uns in der Erich-Weinert-Buchhandlung manchmal darüber lustig machten, wie junge Leute aus dem Westen andächtig in den Regalen die langen Reihen der Ladenhüter, bestehend aus den Werken von Marx, Engels, Lenin und der entsprechenden Sekundärliteratur, stöberten und für umgetauschte Ostmark billig einkauften. Im Berliner Bahnhof Friedrichstraße gab es auch eine entsprechende Buchhandlung, die damit guten Umsatz machen konnte. Das war uns einigermaßen unverständlich, da wir ja den sogenannten real existierenden Sozialismus kannten, von dem sie schwärmten. Aber eigentlich war es ja noch viel schlimmer. Sie liefen mit der Mao-Bibel zu einer Zeit herum, als in China die Kulturrevolution tobte, bei der fast eine halbe Million Menschen umgebracht wurden, die bildungstragende Schicht tyrannisiert, gefoltert und deportiert, die vorangegangene Kultur oft geschändet wurde. Und diese jungen Westdeutschen schwärmten ausgerechnet für diese Kulturrevolution! Und das zu einer Zeit, da wir fasziniert nach Prag und zur Tschechoslowakei schauten, wo der Prager Frühling seinen Einzug hielt. Hier lag unsere Hoffnung und nicht in der chinesischen Tyrannei. Diese radikalen „Achtundsechziger“ hielten ihre Revolutionsfantasien auch noch aufrecht, als in Prag die sowjetische Armee den Prager Frühling mit Gewalt erstickte. Allerdings darf einen das nicht wundern. Nur fünf Tage nachdem Dubcek in der Karlsuniversität seine bedeutsame Rede gehalten hatte, sprach auch Rudi Dutschke am 9. April 1968 dort. Wenn man die Aufzeichnungen dieser Rede liest, so merkt man, dass er von der Qualität des Prager Frühlings eigentlich nichts verstanden hatte. Unter Demokratie verstand er keine bürgerliche Demokratie mit verschiedenen Parteien, sondern lediglich die Möglichkeit von Fraktionen innerhalb einer allein herrschenden marxistischen Partei! Ich glaube nicht, dass er damals viele Blumen in Prag damit geerntet hat! Dabei hatte Rudi Dutschke doch selbst in der DDR in Luckenwalde erfahren, was eine Parteidiktatur bedeutet, da man ihm das Studium wegen einer Rede auf der Oberschule gegen die Militarisierung untersagt hatte. Dutschke war ein Volkstribun und Demagoge. Er war hoch gebildet, sehr belesen und ein überragender Redner, der aber auch alle und alles niederreden und alle aufstacheln konnte. Manchmal kommt es mir fast symbolisch vor, dass seine aus den USA stammende Frau den bieder-deutschen Vornamen Gretchen trug. Rudi Dutschke erscheint mir wie ein Faust, der in seinem Drang politisch immer mehr, ja alles, verändern zu wollen, sich dem Mephisto der revolutionären Gewalt verschrieb und letztlich dann auch der Gewalt zum Opfer fiel.

Aber zurück zu den Achtundsechzigern. Es wurde viel über diese Studentenkrawalle berichtet, die mit Demokratie überhaupt nichts mehr zu tun hatten. Im Gegenteil: Einige Gruppen radikalisierten sich immer mehr und es wurde eine Meinungsdiktatur durchgeführt. Andersdenkende wurden niedergeschrien, Vorlesungen wurden gesprengt, Professoren und Dozenten beleidigt, diskreditiert, herausgedrängt. Ach, gibt es das heute nicht schon wieder? In Berlin wollten 1971 Studenten sogar den Politologen Alexander Schwan – den Ehemann von Gesine Schwan – aus dem Fenster des Hörsaals des Otto-Suhr-Institutes werfen, was zum Glück durch einige Besonnene verhindert wurde. In Göttingen rief ein Flugblatt 1968 dazu auf, die „Töchter und Weiber“ der Professoren zu vergewaltigen! Ich glaube aber, wir dürfen ganz sicher sein, dass diese Erscheinungen nicht von der Bevölkerung getragen wurden, ja sicher nicht einmal von der Mehrheit der Studentenschaft. Es waren wildgewordene Kinder des Kleinbürgertums und der Mittelschicht, nicht des „Proletariats“, das sie zu „befreien“ vorgaben. Wenn wir von diesen Aktionen lesen, so lesen wir zumeist von Studierenden der Politologie, der Soziologie oder Philosophie. Wundert’s jemanden? Von den Fakultäten der Mediziner, Juristen und Naturwissenschaftler wurde diesbezüglich wenig verlautbart. Man muss sich nur vorstellen, dass in Westberlin 1971 zweitausend (!) für das Politologieinstitut eingeschrieben waren bei einer Kapazität von lediglich 450 Studierenden! Es wird auch wenig darüber berichtet, wie viele Studenten eigentlich an ihrem Wunsch, fleißig zum Studierendenabschluss zu kommen, behindert wurden. Zu Beginn der siebziger Jahre spaltete sich diese Bewegung auf. Feministische Gruppen, Friedensbewegungen und ökologische Kreise, die späteren Grünen, bildeten sich heraus. Und es entstand ein harter, mord-  und gewaltbereiter Kern: die RAF. Mit der verschrobenen Hypothese, dass man nur durch Gewaltaktionen die demokratische Maske des Staates entfernen  könne, um seinen faschistischen Charakter zu enthüllen, griffen sie selbst zu Gewalt und Mord und bedienten sich faschistischer, bzw. stalinistischer Methoden, was ja in etwa auf dasselbe herauskommt. „Wer die Methoden seines Gegners übernimmt, beginnt ihm zu gleichen“, sagt Botho Strauß.
Was bleibt über: Jahrzehntelang erfolgte eine Verherrlichung dieser gewaltbereiten und pseudorevolutionären Bewegung. Über die schweigende Mehrheit, die ihrer Arbeit nachging, wird kein Wort verloren. Aber alles, was den 68ern von einigen Autoren als ihr Verdienst zugeschrieben wird, nahm wesentlich früher seinen Anfang, wie schon oben beschrieben. Manches traditionelle – und nicht alles war schlecht – wurde in dieser Zeit zerstört. Mancher Vordenker und Förderer dieser Bewegung, wie zum Beispiel Th. W. Adorno, wurde selbst zum Opfer. Erst wurde ihm eifrig zugehört, dann erfolgte am 22.4.1969 während seiner Vorlesung zum dialektischen Denken das sogenannte „Busenattentat“, bei dem ihn mehrere barbusige Frauen bedrängten und er die Vorlesung abbrach. Wenige Wochen später starb er am Herzinfarkt. Andere wieder wurden durch diese Welle nach oben getragen: Trittin zum Beispiel, früher kommunistischer Bund Westdeutschlands, präsentiert sich heute mit Schlips, Weste und Anzug weltmännisch als Staatsmann oder Joschka Fischer, der mit seiner Putzgruppe Polizisten bedrängte, residiert heute vornehm in einer Grunewaldvilla, leitet eine internationale Consulting Firma und ist Lobbyist großer Konzerne, wie z.B. von BMW. Aber wussten wir es nicht schon immer? Eine Revolution dient nicht dazu, den Thron zu stürzen, sondern sich auf ihn zu setzen. Paul F. Gaudi

Zurück