Gedanken- & Spaziergänge im Park: Wie geht’s?
Ich bin es ja noch so gewohnt, dass man bei einer Begrüßung jemandem einen guten Tag wünscht, oder je nach der Tageszeit einen guten Morgen oder einen guten Abend. Aber irgendwie scheint mir das selten geworden zu sein. Wenn ich jetzt einen Bekannten treffe, so wird statt des guten Wunsches zur Tageszeit einfach gefragt: „Wie geht’s?“ Ist diese Frage nicht eigentlich ein wenig vermessen? Mit welchem Recht fragt mein Gegenüber mich das? Ist meine Stimmung eigentlich so, dass ich ihm darauf antworten möchte und ihm sagen möchte, wie es mir geht? Ja nun, was soll man darauf antworten? Man könnte ja sagen: „Wenn Sie ein Viertelstündchen Zeit haben, dann kann ich Ihnen das gerne sagen.“ Oder, was wäre, wenn ich dem Fragenden antworten würde: „Gar nicht gut, schlecht.“ Ja, was wäre denn dann? Dann fühlte der Fragende sich vielleicht plötzlich in der Pflicht und müsste nachfragen, warum das so wäre. Und das würde Zeit kosten, die er eigentlich gar nicht für mich hat. Sicher würde er gute Gründe finden, warum er jetzt gerade keine Zeit hätte darauf einzugehen, obwohl er das natürlich für sehr wichtig halte und gerne bei anderer Gelegenheit darauf zurückkommen möchte. Wer‘s glaubt wird selig.
Natürlich weiß ich, dass das „wie geht’s“ nur eine Floskel ist, ähnlich der französischen Begrüßung „Ça va?“ Es ist bei einer Benutzung dieser Floskel wie eine Begegnung zwischen zwei Revolverhelden im wilden Westen: wer zieht zuerst. Wer sagt zuerst „wie geht’s?“ Und wie eine nicht weiter ernst zu nehmende Floskel wird es auch behandelt mit der Antwort: „Danke, und selbst?“ Als ob „Danke“ eine Antwort wäre auf die Frage wie geht’s! Doch in der Regel ist der Fragende mit dieser nichtssagenden Antwort zufrieden, denn er hat ja gar nicht wissen wollen, wie es dem Gegenüber wirklich geht.
Dabei fällt mir eine Begebenheit ein, die ich Anfang 1990 bei meiner ersten Reise zu einem Kongress nach München hatte. Ein westdeutscher Kollege, der mitbekommen hatte, dass ich aus der DDR kam, die damals noch in den letzten Zügen lag, trat in einer Pause an mich heran und sagte: „Sie sind aus der DDR, aus Magdeburg? Das ist ja interessant! Erzählen Sie mal, wie es Ihnen da mit Ihrem Fach erging.“ Erfreut über dieses Interesse wollte ich gerade einen „großen Gesang“ anstimmen – aber ich war mit dem ersten Satz noch nicht zu Ende, als er sagte: „Entschuldigen Sie bitte, ich muss mal schnell zu einem Kollegen und dort etwas mit ihm besprechen.“ Es war wie ein Kübel kalten Wassers, der über mich ausgegossen wurde. Ich habe schnell begriffen, dass es nur ein geheucheltes Interesse war, das zu den Spielregeln eines inhaltslosen Höflichkeitsgebarens gehörte. Und ich musste mir eingestehen, dass ich das aus meinem Freundes-, Bekannten- und Kollegenkreis eigentlich nicht gewohnt war. Ich habe aber auch gelernt, dass das nicht böse oder diskriminierend gemeint war, sondern zu den dort und jetzt auch hier üblichen Regeln des sogenannten „small talk“ gehörte, eine Form der nichtssagenden Höflichkeit. Es hat etwas von der Freundlichkeit eines Versicherungsvertreters. Aber das nebenbei.
Zurück zu dem „wie geht’s“. In den letzten Jahren hat sich diese Floskel ja noch weiter entwickelt und eigentlich verschlimmert. Jetzt wird man des Öfteren nicht mehr gefragt „wie geht’s?“, sondern nur noch: „geht’s gut?“ Das ist raffiniert! Hier wird einem die gewünschte Antwort gleich mit in den Mund gelegt. Und in der Regel erfolgt die übliche Antwort: „Danke, und selbst?“ Und dann kann man sich trennen und jeder geht seiner Wege.
Vielleicht ist es übertrieben, aber ich finde, dass diese Floskeln, die eigentlich keine Antwort erheischen, einen hohen Grad von Beziehungslosigkeit verkörpern, der durch ein vorgetäuschtes Interesse verborgen wird. Im Grunde genommen würde es reichen, wenn man sich im Vorübergehen einfach zunickt oder kurz die Hand zum Gruß erhebt (natürlich nicht die Rechte!) oder nur „Hallo“ sagt. Damit wäre ebenso wenig gesagt, aber es wäre ehrlicher. Einfach ein Zeichen, dass man sich zwar kennt, aber zumindest im Moment kein größeres Interesse aneinander hat. Aber ist das nicht auch ein Zeichen unserer kommunikativen Kultur?
Wo finden noch lange und intensive Gespräche statt, über den Zustand der Welt, über das eigene Befinden in dieser Welt? Über die eigenen Sorgen und Nöte? Es werden in Facebook, Twitter und WhatsApp kurze Bemerkungen gemacht und ebenso kurz beantwortet. Doch manchmal nicht mal das, sondern es werden nur ein paar Smileys gesendet. So hat man sein Lebenszeichen abgesondert und das der anderen empfangen und anscheinend sind alle zufrieden damit. Was für eine magere Kost für Geist und Seele! Ist denn niemand hungrig auf ausführliche und gute Gespräche? Kann man mit der vitaminlosen und kalorienarmen Kost der sich wöchentlich wiederholenden Talkshows geistig gesättigt werden, in der die immer wieder gleichen Gesichter ihre schon bekannten Schlagworte und Glaubensgrundsätze wiederholen? Und man selbst nicht einmal mitreden kann? Da ist ja ein Kaffeekränzchen unterhaltsamer, denn da sprechen die Leute manchmal wirklich von sich. Da waren Zeiten ohne moderne Kommunikationstechniken und die sogenannten „sozialen“ Medien wesentlich interessanter und ergiebiger. Man mache sich nur einmal die Mühe im „Gastmahl“ von Platon zu lesen. Oder auch – eine Nummer kleiner – in Romanen des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel von Fontane, wo man lesen kann, wie Menschen, die sich füreinander interessieren, miteinander reden. Und zwar ausführlich und vor allem: wesentlich! Zum Schluss fällt mir noch ein Satz ein, ich weiß nicht von wem, „ein Streichquartett ist so, wie wenn vier kluge Menschen miteinander reden“. Ja, solche Gespräche wünsche ich mir, sie sind der Menschen würdig. Aber, wie ging das? Paul F. Gaudi