Gedanken- & Spaziergänge im Park: Im Weinstudio Grün-Rot
Vor einiger Zeit kam Perle mal wieder nach Magdeburg. Perle hieß natürlich in Wirklichkeit nicht Perle, sondern Werner. Aber er nannte sich selber so, weil in seiner Jugendzeit, als er in einem Boxverein Mitglied war, ein Trainer zu ihm gesagt haben sollte: „Werner, Du bist eine richtige Perle“. Er lebte schon lange im Bayerischen, nachdem er sich im Mai 1989 von seinen Freunden im Weinstudio für eine Reise nach Ungarn verabschiedet hatte. Es sollte eine lange Abwesenheit werden, denn er blieb in Ungarn, um dann am 19. August bei Sopron die ungarische Grenze nach Österreich zu durchbrechen. Das Bild, das ihn fast als ersten beim Durchbruch des Maschendrahtzaunes zeigt, war in vielen Zeitungen zu sehen, natürlich nicht im „Neuen Deutschland“ oder der „Volksstimme“.
Jedenfalls wollte er in sein altes Stammlokal, das Weinstudio am Hasselbachplatz, einkehren. Die Enttäuschung war riesig. Statt des Weinstudios fand er nur eine, wie er es ausdrückte, „Yuppie-Kneipe“. Das Einzige, was er daran gut fand, war, dass man jetzt draußen sitzen konnte. Das war in der DDR in kaum einer Gaststätte möglich. Also tranken wir woanders unseren Schoppen und schwärmten stundenlang vom einstigen Weinstudio und seinen Gästen. Es war ein gemütliches Lokal, wurde wohl 1960 als Weingaststätte eröffnet. Schummrig war es. Die Glühbirnen steckten in grünen Flaschen an Leuchtern. Wenn man eintrat, sah man ein großes Fass, in dem man auf einer runden Bank sitzen konnte. Dort saß ich, als ich Student gewesen war und auf zwei Freunde wartete. Damals gab es sogar einen Portier mit einer Schirmmütze. Der wurde aber bald eingespart. Ich war wohl früh da. So schrieb ich schnell ein Gedicht. Es lautet:
Impression im fass
links von der
neonübergleissten strasse,
die mit gier‘gen bänden
nach den menschen schreit,
liegt eine insel
der beschaulichkeit
ich sitze dort
auf dieser
von flaschen
mühsam bedämmerten
stätte des genusses
im großen fass
und gedenke der
Vergangenheit,
kontrapunktiert
vom grauhaarig-summenden
portier.
Wenn ich es heute lese, beschreibt es gut die Atmosphäre. Abgesehen von der expressionistisch anmutenden Phrase der „neonübergleissten Straße“. Von vielem grellen Neonlicht konnte man wohl in Magdeburg damals beim besten Willen nicht sprechen! Weiß Gott, wie ich damals darauf kam.
Zurück ins Weinstudio. Es war ein Treffpunkt. Maler, Musiker und Intellektuelle waren hier anzutreffen. Schauspieler oder hin und wieder ein Schriftsteller waren anzutreffen. Zu den Malern gehörten u.a. Günter Pilling, Helmut Biedermann, Ekardt Schwandt, Siegfried Wagner, das Ehepaar Linge oder der Bühnenbildner Volkmar Förster, der später das Theater verließ, Maler und Puppenspieler wurde und einen alten Gasthof in Eschenbach bei Schöneck erwarb. Von 1980 bis 1982 veranstaltete er dort jährlich die aufmüpfigen Eschenbacher Festspiele. Musiker der Gruppen Kraal, Juckreiz oder Reggae Play sah man. Bekannt auch ein Domküster, den jeder nur „Küster“ nannte. Nicht zu vergessen die Schauspieler Axel Werner und Peter Wittig, der Schriftsteller Klaus Wolf. Der begnadete Schach- und Pokerspieler (nicht im Hauptberuf) „Locke“, so genannt wegen seiner frühen Glatze. Oder das Ehepaar Dietrich und Inge Bahs, die in der Hegelstraße eine oppositionelle und staatsicherheitsbekannte Wohnungsgalerie führten. Diese Namen sind nur ein kleiner Teil derer, die zu nennen wären. Und mancher landete wegen einem Ausreiseantrag oder versuchter Republikflucht im Stasiknast. Die Chefin Gisela Helbig hielt den Laden mit Freundlichkeit und nötiger Strenge über die Jahrzehnte zusammen. Lange Zeit bis zum verdienten Ruhestand war Bruno, der Ober, die Seele vom Lokal. Er war ein vorzüglicher Kellner, der offensichtlich seinen Beruf gern ausübte, was man von vielen seiner Nachfolger nicht behaupten konnte. Wenn im Lokal die Stimmung auf dem Höhepunkt war und die Gäste ihn herzlich baten, dann griff Bruno zu seiner Teufelsgeige, von den Musikern Hans und Rudi unterstützt und sang dazu sein Standardlied: „Tschip, tschip, sagt der Spatz zum Spätzchen…“ Immer ein trinkgeldreicher Erfolg! Mancher Gast war wegen der Musikwünsche bekannt. Bei einem, der über Paris schwärmte spielten die Musiker stets das Lied „Champs-Élysées“, sobald er das Lokal betrat – ein Schoppen war ihnen sicher. Paris – drei des Jahrganges 1939 hatten verabredet, sich nach Renteneintritt in Paris zu treffen. Bekanntlich überholten die geschichtlichen Ereignisse 1989 das Versprechen. Unvergessen bleibt der 55. Geburtstag des einen – natürlich im Weinstudio gefeiert –, wo er von den anderen einen Koffer mit der Aufschrift geschenkt bekam: „noch zehn Jahre bis Paris“. Bemerkenswert waren die Bleiglasfenster an beiden Straßenseiten der Gaststätte. Sie zeigten vor allem osteuropäische Weinländer, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien und Deutschland. Kaum zu glauben, aber wahr, da stand wahrhaftig „Deutschland“ und das in der real existierenden DDR. Irgendwann fiel es den Genossen in den achtziger Jahren auf und sie wollten es entfernen lassen, doch Chefin und Betriebsleitung stellten sich quer. Das Fenster blieb.
Mit der Zeit wurde das Angebot an Weinen spärlicher. Seltener wurden der bulgarische Cabernet, der Pinot Noir aus Rumänien oder das „Erlauer Stierblut“. Dafür gab es grässliche süße Rotweine mit dem Titel „Kadarka“ oder „Klostergeflüster“. Der absolute Tiefpunkt wurde erreicht, als es fast nur noch „Abtshof weiß“ oder „Abtshof rot“ gab. Auf dem Etikett versehen mit dem Zusatz „hergestellt aus Importtrauben“. Böse Zungen sprachen von „Abtshofjauche“. Da konnte es vorkommen, dass man den eigenen Wein mitbrachte und lieber Korkgeld zahlte, als dieses Zeug zu trinken. Egal wie das Angebot war, das Weinstudio blieb gefüllt. Ab 21 Uhr wies oft ein Schild „Wegen Überfüllung geschlossen“ auf die Beliebtheit der Einrichtung hin. Aber Stammgäste wussten, dass sie an der Hintertür dreimal lang und dreimal kurz klingeln mussten, um eingelassen zu werden. Am Tisch rückten die Freunde ein wenig zusammen. Wenn gegen Mitternacht die Chefin rief „es ist Feierabend! Auch der Gast macht sich strafbar!“ gingen alle. Fast alle. Die Leute am Stammtisch blieben noch eine Stunde, ebenso das Personal an ihrem Tisch hinter der Theke.
Ich glaube, es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass sich an diesem Ort ein großer Teil der inoffiziellen, kulturellen und intellektuellen Elite der Stadt traf. Es wunderte niemanden, dass auch die Stasi ihre Ohren im Weinstudio aufsperrte. Da gab es z. B. zwei gut aussehende blonde Damen, die einem normalen Beruf nachgingen, aber jedes Jahr im Frühjahr und im Herbst in Leipzig zur Messe weilten. Es gab auch Schlimmere: der IM „Gerhard“, der eifrig im Café Liliput und im Weinstudio spitzelte. Mitte der Mitte achtziger Jahre war er so bekannt, dass die meisten ihn nicht mehr am Tisch haben wollten. Die Stasi versetzte ihn nach Berlin, wo er sich als Dichter ausgab und in der Künstlerszene des Prenzlauer Berges weiter Spitzeldienst tat. Ausführlich nachzulesen in dem Buch von Alison Lewis „Die Kunst des Verrats“ (2003). Oder der von uns „Major“ getaufte Essensausfahrer der Volkssolidarität, der heimlich oder von der Stasi gedeckt mit Antiquitäten handelte und 1985 plötzlich eine Spielkonsole von Nintendo besaß. Die verschaffte ihm viele „Freunde“. Unvergessen in den Annalen der rote Robert (Name verändert), der im Nebenhaus wohnte und sich leutselig an die interessanten Tische setzte. Einmal vergaß er im Trunke seine Aktentasche. Einer der nach Brunos Ausscheiden häufiger angestellten Aushilfskellner, der Bergsteiger war, schaute neugierig in die Tasche und entdeckte Notizen, die Robert als Spitzel enttarnten. In den Tagen darauf besuchten er und seine Bergkameraden den roten Robert und räumten seine Wohnung kräftig auf und verpassten Robert ein blaues Auge. Ein Opfer der Stasi wurde auch Peter Wulkau. Wegen abweichender politischer Einstellung wurde er vom Studium relegiert und arbeitete zeitweilig als Kellner im Weinstudio. Man merkte ihm an, dass er lieber bei uns am Tisch saß und mit uns sprach, als dass er uns bedienen wollte. In seiner Freizeit schrieb er ein Buch, das in der DDR nie gedruckt werden würde. Deshalb gab er das Manuskript einem in Magdeburg lebenden Ausländer, damit dieser es in den Westen bringen könnte. Dieser Mann war aber ein Spitzel und übergab das Manuskript seinem Führungsoffizier. Die Folge war, dass Peter Wulkau verhaftet wurde. Heike Bachelier schildert dieses erschütternde Schicksal anhand der Akten in dem Buch: „Ein ganz normaler Feind“ (2012). Es ließe sich noch so viel von diesem Lokal erzählen. Aber irgendwann musste man doch nach Hause. Das war in Magdeburg damals kein Problem: eine Schwarztaxe fuhr einen für fünf Mark der DDR überallhin. Manchmal hatte man noch Glück und Max kam angefahren. Max, der auch ein Stammgast im Weinstudio war, war ein Pädagogikstudent, der abends und nachts Taxi fuhr. Und der setzte seine Freunde zu den regulären zahlenden Fahrgästen. Wenn sich einer von denen darüber beschwerte, sagte er: „kannst ja aussteigen, wenn es Dir nicht passt!“ Das wollte natürlich keiner. Später wurde Max ein namhafter Theatermann.
Nach dem Ende der DDR endete auch das Weinstudio. Es gab wechselnde Besitzer, die Bleiglasfenster wurden ausgebaut und verschwanden. Die Stammgäste auch. Perle verstarb am 7. Juni dieses Jahres nach schwerer Krankheit. Paul F. Gaudi