Gedanken- & Spaziergänge im Park: Gedenkskrupel

Ich mag den November nicht besonders zum Spazierengehen und will an dieser Stelle gar nicht das Herbstgedicht von Rilke zitieren. In meiner Kindheit fand ich den November noch viel schlimmer. Die goldenen Oktobertage waren vorbei, die Äpfel abgepflückt und die Walnüsse aufgesucht. Und bis zu der schönen Kerzenzeit ab Anfang Dezember schien es noch Ewigkeiten zu dauern. Dazu dann noch diese Trauertage mit den Friedhofsbesuchen. Mein Vater ging oft auf den Friedhof in der nahegelegenen Kreisstadt in der ich aufwuchs und besuchte das Grab seiner Eltern. Meist nahm er mich mit, was mir gar nicht gefiel. Dieser Friedhof lag mitten in der Stadt und es gibt ihn nicht mehr. Zu DDR-Zeiten wurde daraus der Busbahnhof! Was die heute oft beklagte „Störung der Totenruhe“ betraf, nahm man das damals wohl nicht so genau. Mein Vater ließ jedenfalls den großen Grabstein seiner Eltern auf den anderen Friedhof der Stadt, der etwas außerhalb lag, versetzen. Über die Jahrzehnte hat sich meine kindliche Aversion gegen Friedhöfe gegeben. Jetzt ist das Grab meiner Eltern in meiner Heimatstadt eher ein Ort einer stillen Zwiesprache geworden, d. h. eigentlich ist es ja ein Monolog. Aber auch sonst besuche ich gerne in anderen Gegenden Friedhöfe. In den letzten Jahren entsetzte mich aber der Anblick mancher dörflichen Friedhöfe. Zum Teil sind sie halb leer. Wenn nach einer gewissen Zeit die Gebühr eines Grabes nicht mehr bezahlt wird, wird der Grabstein abgeräumt und das Grab eingeebnet. So sah ich zum Beispiel in Stemmern einen fast halbleeren Friedhof und die Grabsteine waren lieblos an der Mauer des Friedhofs abgestellt und warteten auf einen vielleicht interessierten Steinmetz. Ich verstehe das nicht ganz, denn der Platz wird nicht gebraucht. Und wie oft hörte oder las man manchmal, dass irgendwelche späten Nachkommen voller Überraschung Gräber ihrer Vorfahren gefunden hatten, wenn diese auch ungepflegt waren. Jetzt wird solch ein Nachfahre nichts mehr vorfinden. Gerade auf kleinen und übersichtlichen Friedhöfen empfinde ich das als ein sehr pietätloses, ja geschichtsloses Vorgehen. Natürlich sind das alles keine Friedhöfe, die auch nur im Entferntesten mit dem Pariser Père-Lachaise Friedhof konkurrieren könnten – aber trotzdem.

Als ich kürzlich vom Salbker See nach Fermersleben spazierte, besuchte ich auch das an der Friedrich-List-Straße gelegene Mahnmal für die gefallenen Fermerslebener des 1. Weltkriegs. Und ich freute mich, wie gut es wieder hergerichtet ist, nachdem die bronzenen Tafeln mit den Namen der Gefallenen gestohlen und das Mahnmal selbst von Sprayern auf das Übelste beschmutz worden war. Mit Denkmälern für gefallene deutsche Soldaten der Weltkriege tun sich manche in Deutschland sehr schwer, und das nicht nur zu DDR-Zeiten. Mancherorts wurden und werden sie beschädigt, mit Farbe beschmutzt oder mit dummen „antimilitaristischen“ Sprüchen verunziert. Ich habe mich immer gefragt, warum diese Menschen das tun. Der da gedacht wird, das waren auch ihre Väter, Großväter oder Urgroßväter. Die allermeisten von ihnen waren bestimmt keine Kriegsverbrecher. Und die wenigsten sind jubelnd in den Krieg gezogen. Solche Bilder gab es nur zu Beginn des ersten Weltkrieges 1914, und das in ganz Europa. Diese Begeisterung hatte sich schnell gelegt und ich bin überzeugt davon, dass nahezu alle lieber zu Hause geblieben wären bei ihrer Familie, bei ihren Kindern, bei ihrer Arbeit. Die heute so selbstgerecht und überheblich darüber urteilen, sollten sich lieber des großen Glückes bewusst sein, dass sie nie in dieser unglücklichen Lage waren und hoffentlich auch immer davor bewahrt werden. Auch aus diesem Grunde finde ich es gut, wenn man dieser unglücklichen Menschen, deren hoffnungsvolles und oft junges Leben zerstört wurde, von Zeit zu Zeit gedenkt. Hin und wieder liest man Kritisches in der Presse, dass rechte Jugendliche sich z. B. auf dem Soldatenfriedhof von Halbe versammelt hätten. Ja, warum überlässt man diesen das Gedenken? Sollten wir nicht alle dieser Unglücklichen gedenken, gerade auf diesem Friedhof, wo besonders sehr junge Soldaten unsinnig starben. Auch diese Menschen sind Opfer, selbst wenn sie damals einer menschenfeindlichen Ideologie folgten. Denn sie sind Opfer einer ideologischen Indoktrination.

Auf Reisen in Europa konnte ich erleben, mit wie viel Anstand und Ehrfurcht andere Völker mit ihren Kriegstoten umgehen. Und nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit den toten ehemaligen Feinden. Beschmutzte oder zerstörte Soldatendenkmale findet man dort nicht! Man besuche nur einmal den deutschen Soldatenfriedhof bei Vladslo in Flandern und betrachte still die von Käthe Kollwitz geschaffenen Plastiken der trauernden Eltern, dann wird man verstehen, was ich meine. So sah ich im italienischen Badeort Grado an der Strandpromenade einen verrosteten Propeller auf einem unbehauenen Stein, auf dem dreisprachig zu lesen war: „Al cadutti dell‘ Aria – To the fallen Airmen – Den Gefallenen der Luftwaffe“. So geht es auch! Im Tode sollte die Feindschaft enden. Natürlich kann man Aufschriften wie „Helden“ als falsch und heroisierend finden. Mit diesen Begriffen wurde versucht, die Gefühle der Trauer und des Entsetzens über den Verlust eines nahen Menschen zu verleugnen. Das ist sicher ein falscher Trost, der die Wunde nicht heilen kann. Gerade in Deutschland ist das Gedenken an die Kriegstoten immer etwas verklemmt und es wird kaum eine Rede gehalten, bei der die deutsche Schuld nicht erwähnt wird – so als wären die Gefallenen selber schuld an ihrem Tode. Ich frage mich, ob die, die so reden, selber im Kriege Deserteure oder Dienstverweigerer geworden wären! Ich glaube nicht. Das Dümmste, was ich diesbezüglich hörte, war der Satz des Dresdner Oberbürgermeisters „Dresden war keine unschuldige Stadt“. Städte können nie schuldig oder unschuldig sein. Nur die Menschen können das sein. Und auch nie alle, sondern immer nur ein Teil von ihnen. Der Umgang mit den Toten und den Kriegsgefallenen ist ein Teil der Kultur eines Volkes. Auch mit den Toten des früheren Gegners. Man kann über die USA denken, was man will, aber es imponiert mir immer wieder, wenn ich lese, dass noch Jahrzehnte nach einem Krieg die Überreste von gefallenen Amerikanern in die USA heimgeführt und dort beigesetzt werden. In dieser Hinsicht leistet auch der Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge eine vorzügliche Arbeit, die man nicht hoch genug einschätzen kann. Manche Angehörige anderer Völker beneiden uns darum. Als Beispiel ein Zitat aus dem letzten Kapitel des Romans „Mein Leutnant“ von Daniil Granin, als er schildert, wie in den letzten Jahren vor den Toren St. Petersburgs ein deutscher Soldatenfriedhof eröffnet wurde. Da flüstert ein russischer Veteran ihm ins Ohr: „dass diese Faschisten nicht schlecht gelebt hätten und nun auch wieder bequem liegen würden, während die Knochen unserer Jungs in den Wäldern verstreut lägen. Genauso war es.“ Paul F. Gaudi

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