Gedanken- & Spaziergänge im Park: Eigenes und Fremdes

Ein Wort, das gegenwärtig oft geschrieben oder gesprochen wird lautet Diversität oder auch „diversity“, wenn man den Eindruck von Bildung und Weltläufigkeit erwecken möchte. Diversität wird heutzutage oft mit Vielfalt oder Vielfältigkeit übersetzt. Das ist nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. Eigentlich bedeutet Diversität Verschiedenheit. Wenn ich zum Beispiel jemanden frage, was seine Suche nach einer neuen Anstellung mache und er antwortet, dass er diverse Angebote habe, so meint er nicht viele, sondern verschiedene Angebote. In den Worten „verschieden“ oder auch „unterscheiden“ steckt der Wortstamm „scheiden“ – und das bedeutet trennen, auseinanderhalten. Der Begriff Diversität wird politisch im Zusammenhang mit verschiedenen Bevölkerungsanteilen und Kulturen gebraucht und fordert Toleranz und Anerkennung. So weit, so gut. Hierbei geht es vor allem darum, dass von Menschen im Allgemeinen manches als andersartig oder „fremd“ empfunden wird, wobei dem Wort fremd ein negativer Beigeschmack zugeordnet wird. Es wird fast suggeriert, dass sich der Gebrauch des Wortes „fremd“ in einer vielfältigen Welt eigentlich nicht mehr gehört. Etwas als fremd zu empfinden sei überholt, ja schon irgendwie „rechts“, denn alle Menschen, ihre Sitten und Gebräuche seien letztlich irgendwie gleich. Wobei der Begriff „gleich“ natürlich falsch ist; es müsste besser gleichberechtigt oder gleichwertig heißen und das ist etwas ganz anderes als gleich. Bei gleichberechtigt und gleichwertig akzeptiert man das Andere eben als etwas Anderes, während bei „gleich“ alle Differenzen und Unterschiede verwischt oder sogar verneint werden.

Zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu unterscheiden, beweist nichts weiter als einen klaren Blick auf die Welt, die uns umgibt und hat nichts mit Rassismus, Extremismus, Sexismus oder sonst irgendeinem „Ismus“ zu tun. Zu solchen „Ismen“ kann die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden erst werden, wenn eine Wertung bzw. eine Abwertung des Anderen, des Fremden dazu kommt: wenn man also das Eigene als das Beste und das Fremde als etwas Schlechteres betrachtet und dem Anderen die Rechte, die man selbst genießt, verweigert.  Allerdings ist dieser Satz so zu absolut und damit nicht ganz richtig: Wenn man zum Beispiel an die Beschneidungen kleiner Mädchen oder die Kinderehe in einigen muslimischen Ländern Afrikas denkt, so werden wir das im allgemeinen als negativ ablehnen und fremd empfinden. Und wir werden diese Beurteilung nicht als unrechtmäßig oder überheblich betrachten. Ich denke darüber besteht Einigkeit. Aber diese Wertung gilt eben nur für unseren Kulturkreis und nicht dort, wo das Vorgenannte stattfindet. Wie weit soll also Toleranz gegenüber dem, was als fremd empfunden wird, gehen? Die Beschneidung der Mädchen und Kinderehen sind extreme Beispiele. Im Alltag lassen sich weniger dramatische Beispiele finden, die vielen als andersartig, aber noch tolerierbar erscheinen. Im Ausland ist es umgekehrt genauso. Als sich eine Verwandte in einer indischen Stadt auf einem Platz von einem dort öffentlich arbeitenden Friseur die Haare waschen ließ, erregte sie als Europäerin – also als Fremde – einen Auflauf von herumstehenden, sich amüsierenden und das Ereignis kommentierenden Menschen. Ich selber war einmal in Tunis und unsere Reisegruppe besuchte dort ein heißes Wasserbad mit Sauna. Natürlich streng getrennt nach beiden Geschlechtern („divers“ kannte man dort nicht). Als ich, wie von zu Hause gewöhnt, nackt in die Männersauna gehen wollte, wurde mir energisch bedeutet, dass das so nicht gehe und ich mir gefälligst Hosen anziehen solle, was ich dann auch tat. Was ich damit sagen möchte ist, dass auch vieles von dem was wir tun, wie wir aussehen, was wir anhaben oder auch nicht anhaben, in einer anderen Umgebung als fremd und nicht selten als störend oder sogar anstößig empfunden wird. Auch andere Völker und Kulturkreise unterscheiden durchaus zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Das ist weiß Gott kein deutsches Problem.

Neuere Ethnopsychologen behaupten, dass das Fremde wie auch das Eigene lediglich Konstrukte seien, die sich gegenseitig bedingen. Das Eigene entstehe erst durch Abgrenzung von dem als fremd wahrgenommenen. Dem letzten Satz kann man nicht ganz folgen, denn erst wenn ich etwas als zu mir gehörig, als das Eigene empfinde, kann ich anderes als fremd wahrnehmen. Es wird mit Bezug auf Sigmund Freud behauptet, dass das Fremde eigentlich nur unterdrückte eigene Anteile seien, die man selber nicht haben dürfe oder wolle, dafür aber bei anderen besonders deutlich und negativ bemerke. Freud sprach in diesem Zusammenhang von dem „inneren Afrika“. Zu seiner Zeit galt das innere Afrika noch als der dunkle und unerforschte Kontinent und sein Gleichnis bezieht sich auf das erst angeblich durch ihn erforschte Unbewusste, das bis dato sozusagen der innerseelische, dunkle Kontinent gewesen wäre. Allerdings meinte Freud damit nicht fremdartige Sitten und Gebräuche, fremde Religionen und ihre Vorschriften oder andersartiges Aussehen, wie es hier suggeriert wird, sondern vielmehr die eigenen Wünsche, Antriebe oder Bedürfnisse, die im Laufe der kindlichen Entwicklung als verboten oder als Tabu gelten und daher ins Unterbewusste verdrängt wurden. Das ist was völlig anderes, als von den Ethnopsychologen behauptet. Nebenbei bemerkt wurde der Vergleich des unbekannten Seelenlebens mit dem „inneren Afrika“ bereits 1823 von dem Schriftsteller Jean Paul in seiner unvollendeten Erzählung „Selina“ getroffen.

Manchen Eltern und Kinderärzten ist die sogenannte „Achtmonatsangst“ bei Kleinkindern bekannt. Säuglinge, die bislang zutraulich erschienen, zeigen manchmal kurz vor Erreichen des ersten Lebensjahres Angstreaktionen, weinen oder wenden sich ab, wenn sich ihnen kaum bekannte oder fremde Menschen nähern. Das ist eine Phase, wo sie zwischen vertraut und fremd unterscheiden können. Und nicht ohne Grund prägen viele Eltern ihren Kindern ein, dass sie nicht mit Fremden mitgehen oder nichts von ihnen annehmen sollen. Blindes Vertrauen ist leichtsinnig. Auch in unserem späteren Leben bemerken wir selbstverständlich das Fremde und erleben manchmal in uns eine Zwiespältigkeit ihm gegenüber. Teils macht es uns neugierig und verlockt, teils auch vorsichtig und misstrauisch. Es ist uns unvertraut, nichts Eigenes und wir wissen noch nicht, was wir davon zu erwarten haben. Insofern ist eine abwartende und beobachtende Haltung dem Fremden gegenüber ein gesunder Reflex, gewissermaßen ein natürlicher Selbstschutz. Diese Vorsicht hat nichts mit Hass oder Feindschaft auf Fremdes oder Fremde zu tun und sollte auch nicht damit verwechselt werden. Sie ermöglicht ein langsames und schrittweises aufeinander Zugehen, was auch von der Gegenseite – die meist ganz ähnlich reagiert – oft wesentlich angenehmer erlebt wird, als eine geradezu überfallartige Umarmung. In sozialen Bereichen wirkt sich diese gewissermaßen „gesellschaftliche Umarmung“ so aus, dass bestimmten zugewanderten, aber auch einheimischen Minderheiten, die für ihre Anerkennung gekämpft haben, nun verschiedene Sonderrechte zugebilligt werden. Das ist nicht immer förderlich für die gegenseitige Annäherung. Solche Sonderrechte oder Vergünstigungen, die andere gewöhnlich nicht haben, führen bei denen, die die Mehrheit sind, dann nicht selten zur Verärgerung und negativen Reaktionen.

Die Achtung vor dem Fremden und dem Eigenen sollte ausgewogen sein. Wer nur das Eigene wertschätzt und das Fremde verachtet, liegt genauso falsch wie derjenige, der alles Fremde für besser hält als das Eigene. Ich kenne Menschen, die sich von einer deutschen Volkstanzgruppe abwenden und sie fast schon für „völkisch“ halten, aber zum Beispiel bei einer kurdischen Gruppe sich die Hände wundklatschen und am liebsten mittanzen würden! Wenn ich mich einem Fremden gegenüber hochmütig und verächtlich verhalte, so kommt das mit Sicherheit nicht gut an. Ich glaube aber nicht, dass ein Fremder mich mehr achtet, wenn ich mein Eigenes schlecht rede und es verachte. Ein freundlicher Gastgeber kann einen bedürftigen Fremden nur dann gut aufnehmen, wenn er seinen eigenen Hausstand achtet und in Ordnung hält. Paul F. Gaudi

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