Gedanken- & Spaziergänge im Park: Der Sturm im November

Nachdem am 9. Oktober 1989 die Menschen ihren Mut und ihren Stolz durch große Demonstrationen in Leipzig, in Plauen und anderswo wiedergefunden hatten, nahmen die Geschehnisse in der DDR einen geradezu atemberaubenden Verlauf. Am 11. Oktober räumte das Politbüro der SED zwar Probleme ein, beschwor aber gleichzeitig, dass „der Sozialismus auf deutschem Boden nicht zur Disposition stehe“. Schon am 18. Oktober wurde Honecker auf einer ZK-Tagung von allen Funktionen entbunden und Egon Krenz neuer Generalsekretär, am 24. Oktober auch Vorsitzender des Staatsrates. Am 30. Oktober sendete das DDR-Fernsehen zum letzten Mal Karl Eduard von Schnitzler mit seinem schwarzen Kanal. Kaum jemand wird ihn danach vermisst haben.

Am 4. November – vier Wochen nach Leipzig (!) – kam es zu einer Großdemonstration in Berlin, an der Hunderttausende teilnahmen. Sie war in erster Linie von Künstlern organisiert, aber SED-treue Kader bereiteten die Veranstaltung vor und die Stasi organisierte kräftig mit. Über 20 Redner kamen auf dieser Versammlung zu Wort, darunter namhafte Schriftsteller wie Christa Wolf, Stefan Heym, Christoph Hein, Schauspieler wie Ulrich Mühe, aber auch Politiker. Vor allem von der SED, es redeten dort: Schabowski, Gregor Gysi und Lothar Bisky. Der vormalige Geheimdienstchef der DDR, der Stasi-General Mischa Wolf, der vielleicht vom Beginn einer neuen Karriere als Politiker an diesem Tag geträumt hatte, erlebte hier sein Waterloo. Er wurde gnadenlos ausgepfiffen. Der Theologe Schorlemmer erklärte im Juni dieses Jahres bei „sputniknews“, dass für ihn dieser 4. November viel wichtiger gewesen wäre als der Tag des Mauerfalls. Diese Beurteilung mag daran liegen, dass er mit auf der Tribüne stand und auch reden durfte. Bärbel Bohley hatte zu dieser Veranstaltung Wolf Biermann eingeladen, der auch kommen wollte. Aber am Bahnhof Friedrichstraße wurde ihm die Einreise verweigert! So viel Freiheit wollte die Obrigkeit nun auch wieder nicht. Vielleicht war die Berliner Demonstration die größte, doch sie kam in ihrer Wirksamkeit bei weitem nicht an die Ereignisse von Leipzig heran, was wohl auch daran lag, dass sie einen stark restaurativen Charakter zum Erhalt der DDR hatte.

Am 7. November 1989 trat der Ministerrat zurück und am 8.11. begann eine dreitägige Tagung des ZK. Am gleichen Tag brachte die aktuelle Kamera einen Aufruf von Christa Wolf und anderen Künstlern an die DDR-Bevölkerung mit dem Inhalt „Bitte reist nicht aus, sondern helft uns einen demokratischen Sozialismus aufzubauen“. Und dann kam der denkwürdige 9. November, ein Donnerstag. Schabowski erklärte gegen 19 Uhr auf einer Pressekonferenz sinngemäß, dass jeder Bürger der DDR frei reisen könne und fügte nach der Nachfrage eines Journalisten hinzu, dass das seiner Meinung nach ab sofort gelte. Was dann kam, hätte sich kein Romanautor aufregender ausdenken können. Hunderte, Tausende strömten zum Grenzübergang Bornholmer Straße. Die Grenzer und Zöllner wussten nicht was sie tun sollten. Die Situation wurde immer brenzliger. Und genau wie einen Monat vorher in Leipzig blieben die lokalen Entscheidungsträger ohne Anweisungen von oben. Die großen weisen Führer des Politbüros mit der proletarischen Entschlusskraft hüllten sich in Schweigen. Aber die örtlichen Funktionäre oder Offiziere waren nur gewöhnt, Anordnungen von oben nach unten „durchzustellen“ und nicht selbstständig zu entscheiden, jedenfalls nicht so schnell. Aber wie in Leipzig entschloss sich auch der Verantwortliche am Grenzübergang, Oberstleutnant Jäger, für die volksfreundliche Lösung. Er öffnete die Grenze und eine kaum vorstellbare Menschenmenge ergoss sich nach West-Berlin, wo sie von den dortigen Einwohnern schon erwartet und freudig begrüßt wurden.
Ich glaube, diese Stimmung lässt sich kaum beschreiben und auch nicht wiederholen. Ich selbst habe es in Magdeburg verschlafen und konnte es am Morgen kaum fassen, als ich im Radio davon hörte. An dem darauf folgenden Wochenende zog sich eine zig Kilometer lange Schlange von Trabbis und Wartburgs an Magdeburg vorbei auf der Autobahn in Richtung Hannover. Auch angeblich sehr überzeugte Genossen machten sich sofort auf die Reise. Mir war das noch zu voll und wir fuhren eine Woche später in Richtung Hannover zu unseren Verwandten. Unsere Kinder „befreiten“ wir an diesem Sonnabend von der Schule. Da das offenbar sehr viele machten waren die Klassen leer und es wurde bald der generelle schulfreie Samstag eingeführt – die Eltern hatten ja die Fünf-Tage-Woche bereits seit 1967. Auf den Parkplätzen der Westautobahn standen Helfer von Feuerwehr oder Rotem Kreuz, die Suppen, Brötchen oder Obst verteilten. Am nächsten Morgen fanden wir an unserem Auto unter dem Scheibenwischer eine Tafel Schokolade geklemmt. Es war eine tolle Stimmung. Ähnlich wie 2015 auf den Bahnhöfen als die Flüchtlinge ankamen. Nur ohne Teddybären.

Aber es entstanden auch die ersten Witze über die Ostdeutschen. Ein Bilderwitz ist mir noch erinnerlich: Man sah einen im Sessel sitzenden Mann vor dem Fernsehapparat und die Frau im Mantel hinter ihm sagte: „Kommst Du mit in die Stadt, Ossis gucken?“ Da wurde das Wort Ossis geboren. Nein, das stimmt nicht, die DDR-Bürger waren nur die zweiten Träger dieser Bezeichnung. Vorher wurden damit die Ostfriesen bezeichnet, von denen es eine ganze Serie von Ostfriesenwitzen gab, in der sie als leicht beschränkt dargestellt wurden. Die Ostfriesen waren sicherlich nicht unglücklich darüber, den Namen Ossi nun an uns abgeben zu können. Das Schiff DDR war nun endgültig auf Grund gelaufen und es war nur noch eine Frage der Zeit bis es untergehen würde.

Am 13. November wurde der einst so gefürchtete Mielke in der Volkskammer ausgelacht, als er erklärte, dass er „doch alle lieben würde“. Intellektuelle versuchten am 29. November mit dem Aufruf „Für unser Land“ noch einmal den maroden Kahn flott zu machen. Umsonst. Es war sicher auch nicht hilfreich für diesen Aufruf, dass ausgerechnet Egon Krenz zu den Mitunterzeichnern gehörte! Am 17.11. bildete Modrow ein neues Regierungskabinett mit 27 Mitgliedern, davon gehörten 16 der SED und 11 den Blockparteien an. Von diesen elf waren später 7 als IMs der Stasi bekannt. Wahrlich keine Wende in einem echten Sinne. Laut Zeitungsmitteilung wurde am 8. Dezember auf einem außerordentlichen Parteitag der SED der „radikale Bruch mit dem Stalinismus“ vollzogen! Reichlich spät, kann man da nur sagen. Auf diesem außerordentlichen Parteitag erfolgte dann auch die neue Namensgebung durch den neuen Vorsitzenden Gregor Gysi als SED-PDS. Und während sich das neue Deutschland noch am 17. Dezember als Zentralorgan der SED bezeichnete, war es am 18. lediglich nur noch eine „sozialistische Tageszeitung“. Gleiches tat sich auch bei der „Volksstimme“.

Es folgten turbulente Zeiten, wo vieles oder fast alles drunter und drüber ging und manche sich kräftig bereichern wollten. Leute mit Geld aus dem Westen und Leute mit Wissen und Beziehungen aus dem Osten bildeten sehr schnell eine unheilige Allianz. Natürlich auch Magdeburg. So berichtete der Spiegel im Juli 1990  über einen solchen Skandal in unserer Stadt. Der Unternehmer Willisch aus der Düsseldorfer Gegend hatte am 3. Mai 1990 mit dem damaligen Oberbürgermeister Dr. Werner Nothe, ein langjähriger SED-Funktionär, - sein Vorgänger Herzig war schon vorher auf dem Domplatz ausgepfiffen und abgesetzt worden - zwei Verträge im staatlichen Notariat geschlossen. Große Flächen Magdeburgs, der zentrale Platz, der Bahnhofsvorplatz, Bereiche der Berliner Chaussee und an der Leipziger Straße, insgesamt etwa 50 ha sollten an Willisch verkauft werden. Gleichzeitig sollte eine Stadtbaugesellschaft Magdeburg mbH gegründet werden, in der Willisch der Mehrheitsgesellschafter mit 51 Prozent sein würde. Zum Glück erklärte die neu gewählte Stadtverordnetenversammlung mit ihrem Oberbürgermeister Polte an der Spitze am 19. Juni diese Verträge für null und nichtig.

In dem letzten Jahr der DDR und in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung gab es überall eine Goldgräberstimmung, selbstverständlich auch in Magdeburg. Ein zentraler Punkt in Magdeburg war die im Herbst 1991 gegründete Gaststätte „Zum alten Dessauer“. An der langen, langen Theke konnte man Geschäftsleute aus dem Westen, Journalisten, Glücksritter, ehemalige Funktionäre, Politiker aus West und Ost vom Taschenträger bis zum Minister aufwärts sehen und treffen. Manchmal hatte man an diesem Ort den Eindruck eines modernen Klondyke, nur ohne Wildwestkostümierung. Paul F. Gaudi

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