Der Barleber See ist natürlich künstlich

Zu einer Zeit, als das Wasser des Barleber Sees noch schön klar und das Wort Blaualgen ein Fremdwort war (inzwischen sind wir wieder guter Hoffnung, die Sanierungsmaßnahme mit Polyaluminiumchlorid zeigt schon sichtbare Erfolge), führte der Dauercamper Otto Fritze seine aus einer anderen Stadt angereisten Besucher am Ufer des Sees spazieren und pries dabei die Schönheit des Sees. Einer der Gäste fragte: „Ist der Barleber See künstlich oder natürlich?" Die kurze und knappe, aber höfliche Antwort war: "Künstlich natürlich.“ Jeder verstand die Antwort. Der Barleber See ist tatsächlich künstlich, durch den Abbau von Baustoffen, hauptsächlich Sand und Kies, entstanden, die dann für den Bau der Autobahn, des Schiffshebewerks und von Gebäuden verwendet wurden. Er steht damit im Gegensatz zu den vielen Gewässern der Mecklenburger Seenplatte, die auf natürliche Weise durch Ausschürfungen des Bodens während der Eiszeit gebildet wurden.

Doch kehren wir zurück zur Fragestellung: „Ist der See künstlich oder natürlich?“ „Künstlich“ und „natürlich“ sind ja Wörter von gegenteiliger Bedeutung. In der Sprachlehre werden sie als sogenannte Antonyme bezeichnet. Sie treten häufig auf, und jedem Deutsch sprechenden Menschen sind solche Wortpaare bewusst: oben – unten, heiß – kalt, Anfang – Ende, Einfahrt – Ausfahrt, Berg – Tal, berühmt – unbedeutend, stetig – schwankend, usw.

„Künstlich“ und „natürlich“ sind erstmal Adjektive, die aber auch in ihrer spezifischen Bedeutung als Adverbien gebraucht werden können. Das Adverb ist ein Wort, das ein im Satz genanntes Verb, ein Substantiv, ein Adjektiv oder ein anderes Adverb seinem Umstand nach näher bestimmt; auf Deutsch ein Umstandswort:
• Der Säugling an der Mutterbrust wird natürlich ernährt.
• Das Frühgeborene im Brutkasten muss noch künstlich ernährt werden.

Hier also ganz eindeutig die Verwendung der Adverbien mit ihrer gegensätzlichen Bedeutung. Doch wie kann es möglich sein, und wie seltsam ist es überhaupt, dass in einer Antwort Wörter verwendet werden, die bereits in der Fragestellung enthalten sind, dort von ihrer Bedeutung her einen Gegensatz bilden und in der Antwort („Künstlich natürlich.“) nebeneinanderstehend wieder auftauchen? Und jeder normale Deutsche versteht den Sinn!

Wir beschränken uns jetzt nicht auf die kurze Form des Satzes („Künstlich natürlich.“), sondern schreiben ihn in der Langform: „Der See ist natürlich künstlich.“ In diesem Satz bestimmen wir die Satzglieder, d. h. die Funktionen, die durch die einzelnen Wörter eingenommen werden:
„Der See“ – ist das sogenannte Subjekt (Satzgegenstand) des Satzes.
„ist natürlich“ – ist das sogenannte Prädikat (Satzaussage).
Zünglein an der Waage ist das Wort „natürlich“. Es hat hier ebenfalls die Funktion eines Adverbs. In unserem Beispiel mit dem See tritt es jedoch nicht in dem Sinne und mit der Bedeutung wie in "Das Frühgeborene im Brutkasten muss noch künstlich ernährt werden“, auf, sondern ganz anders auf, nämlich wie „selbstverständlich“, „unbestreitbar“, „ganz eindeutig“, „ohne Zweifel“ usw.

Eben gerade mit dieser letztgenannten Bedeutung ist es möglich, dass „natürlich“ in der Antwort „Künstlich natürlich.“ auftreten kann. Dabei spielt die Reihenfolge der beiden Wörter keine Rolle:   
Anstelle von „Künstlich natürlich“ kann ich auch sagen: „Natürlich künstlich“, der Sinn ändert sich nicht.

Jetzt ein kleiner Witz:
Fragt Egon seinen Freund:
„Na, wie war denn der Besuch bei deinen     Verwandten?“
„Wenig herzlich!“
„Und das Essen?“
„Herzlich wenig!“

Der aufmerksame Leser ahnt schon, worauf wir hier hinauswollen, worin der Witz besteht: „Wenig herzlich!“ – „wenig“ wird hier als Adverb gebraucht, „herzlich“ ist Adjektiv. „Herzlich wenig!“ – „wenig“ ist Adjektiv, „herzlich“ ist das Adverb.

Im Deutschen erkennen wir nicht so einfach, was Adjektiv ist und was Adverb ist. Daher würde ich eine Empfehlung für Schüler mit Fremdsprachenunterricht geben:
Wenn Ihr Aufsätze oder Übersetzungen, ausgehend vom Deutschen, im Englischen anfertigt, dann achtet auf die Unterschiede zwischen Adjektiv und Adverb.

Für Wissenschaftler, Ärzte, Ingenieure und sonstige Personen, die gebeten werden, zu ihrer Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift auch ein Kurzreferat in englischer Sprache mitzuliefern, würde ich die Empfehlung geben, auf die Unterschiede zwischen Adjektiv und Adverb zu achten. Dieter Mengwasser, Dipl.-Dolmetscher u. -Übersetzer

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