Wolfs Redlichkeiten: Ich ging auf der Straße so für mich hin

… und nichts zu suchen, das war mein Sinn. Am Lichtmast sah ich ein Plakatlein hängen ... Nein, nichts leuchtete da wie Sterne, nichts wie Äuglein schön. Am nächsten Mast dasselbe, anders getüncht zwar, und am übernächsten – o Gott! Plattheiten, nichts, was die Seele, was den Geist erfreut, was unsereinen ernst nimmt. Wahlplakate eben. Die Fortsetzung der Politik mit dem Mittel der Extremisierung von Trivialität und Schein-Bedeutsamkeit. Wenn ich Politiker wäre, frage ich mich so für mich hin, was, ja was würde ich denn auf ein solches Plakat schreiben? Politik ist kompliziert. Und so was in ein oder zwei, drei oder vier Schlagworte fassen müssen! Alles, was mir einfällt, fällt gleich wieder durch. Zum Beispiel „Freiheit!“ Für wen, fragt sich jeder sofort. Oder „Freiheit für alle!“ – wie soll das gehen? „Freiheit und Ordnung!“, geht auch nicht. „Freiheit statt Ordnung!“, bedenklich. „Ordnung statt Freiheit!“, dasselbe. „Gleicher Lohn für alle!“, ist doch wohl nicht gerecht. „Gleiche Zensuren für alle!“, wäre derselbe Unsinn. „Alle Menschen sind gleich!“, stimmt ganz einfach nicht. Oder „Gerechtigkeit: Männer und Frauen ohne Unterschied!“, wäre nicht gut für die Frauen, sie würden früher sterben müssen.
Weiter ging ich so für mich hin. Was, ja was sollte ich da hinschreiben wollen? Was, das Verstand verspricht und die Wählerin und der Wähler ernst nimmt? Versuchen Sie es mal selbst, verehrte Leserin, verehrter Leser! Malen Sie sich etwas aus, woran Sie sich auch nach der Wahl binden lassen wollen. Allerdings eben, Ihre Rivalen werden es mit ihrem Wahlversprechen nicht so ernst meinen und dadurch wahrscheinlich erfolgreicher sein als Sie. Schlimmer noch, denken Sie an Wahlveranstaltungen! Sie selbst versuchen es dort mit der Wahrheit, die anderen verschleiern diese, übertünchen sie, lenken mit positiven, aber nichtigen Wahrheiten von negativen, jedoch gravierenden Wahrheiten ab. Sie könnten von den Kontrahenten in Ihren Absichten diffamiert und verleumdet werden, verunglimpft, was das Zeug hält und was der Bürger aushält.
Weiter ging ich so für mich hin. Da fiel mir ein, wie wär’s denn mit einer Partei eines ganz neuen Typs, einer von der radikalen Redlichkeit? Wurzeltief (jawohl: lat. radix – die Wurzel) und kompromisslos offen. Tosender Bürgerapplaus, jeder würde mich wählen wollen! Die anderen Parteien könnten sich diesem Erfolg nicht verschließen und machten alle mit, mit der neuen Offenheit. – Wie Sterne leuchtend blickten sie mich auf einmal alle an, die Plakate da droben an den Masten, wie Äuglein schön. Ich wischte mir über meine eigenen Augen. Und schon waren sie wieder da, die Trivialitäten und Schein-Bedeutsamkeiten. An Loriot musste ich denken, der gesagt hat: „Der beste Platz für Politiker ist das Wahlplakat. Dort ist er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen.“ Prof. Dr. Gerald Wolf

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