Wer die Wahl hat...

Sieh da! Sieh da, hier liegen sie … die Wahlunterlagen, vor mir auf dem Tisch in der Wahlkabine. Der Kugelschreiber bereits in der Hand. Bloß weigert sich dieser, ein Zeichen zu setzen. Ein Zeichen wofür? Für eine sichere Rente? Für ein vernünftigeres Bildungssystem? Für einen sorgsameren Umgang mit der Umwelt? Seit einigen Jahre nun schon dasselbe Spiel. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Und wie ich mich quäle ... Während früher das Kreuz noch aus Überzeugung gesetzt wurde, ist die Überzeugung dem leise winselnden demokratischen Pflichtbewusstsein gewichen: Nicht zu wählen ist auch keine Lösung.
Ein „weiter so“, das wollen die wenigsten. Aber wenn nicht so, wie dann? Darauf gab es im Wahlkampf keine zufriedenstellende Antwort. Weder war das TV-Duell – dessen Erinnerung eher zur Flucht aus der Wahlkabine verleitet – von Nutzen noch die Befragung diverser Entscheidungshilfen im Internet – beispielsweise der Wahl-O-Mat, bei dem wichtige Themen wie Familien- und Bildungspolitik oder Digitalisierung zu kurz kommen.
Und die Wahlprogramme der einzelnen Parteien? Nun ja … die sind wohl ebenso mehr Abschreckung als Hilfe. Immerhin wurde das Gefühl, eine Forschungsarbeit abliefern zu müssen, um die Programme zu verstehen, nun auch von Forschern bestätigt. Denn laut einer Studie der Universität Hohenheim, welche die Verständlichkeit der Wahlprogramme mittels einer Software untersuchte, sind viele Passagen für Laien ohne umfassenderes Fachwissen kaum verständlich. Und zur schnellen Bettlektüre taugen die Schriften schon aufgrund ihrer Länge nicht. Circa 225.000 Wörter – wenn man sich auf die Wahlprogramme der Parteien beschränkt, die mit einem Einzug in den Bundestag rechnen können. Würde man das Neue Testament (140.000 Wörter) lesen, wäre man nicht nur schneller fertig, der Erleuchtungsfaktor wäre vermutlich auch höher.
Soll ich nun also taktisch wählen, um ein „weiter so“ zu verhindern? Oder endet das ganze wie das Hornberger Schießen? Nur eine unorthodoxe Methode scheint da Abhilfe leisten zu können. Und so rufe ich dem Wahlhelfer im Raum zu: „Sagen Sie mal ‚Stopp‘!“ So pflegte meine Lehrerin – mit dem Kugelschreiber über die Namensliste im Klassenbuch gleitend – diejenigen auszuwählen, die zur mündlichen Leistungskontrolle beordert werden wollten. „Stopp!“, hallt es durch den Raum, der Kuli stockt auf den Wahlunterlagen … „Nochmal, bitte“, rufe ich. „Der ist heute krank, der kann nicht.“ (th)

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