Vom Regen in die Traufe

Gene sind in Deutschland total igitt. Modernste gentechnische Verfahren werden geächtet. Der Europäische Gerichtshof stellte jetzt solche Forschung unter Kuratel. Deutsche Politiker klatschen Beifall. In der Welt lacht man sich über die Eigentore gegen Wissenschaft und Fortschritt schlapp.

Was waren wir froh, als die DDR endlich zusammenbrach! Natürlich trieb uns auch der Wunsch nach Teilhabe am westdeutschen Wohlstand, aber noch wichtiger war uns, den Hunger nach geistiger Freiheit zu stillen. Wir wollten ohne Angst unsere Meinungen diskutieren und uns und unsere Kinder der SED-Indoktrination entziehen. Die gab es, wohin man sah! 1957 mussten alle landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften Mais anbauen, weil der sowjetische Regierungschef Nikita S. Chruschtschow das toll fand. Als ich 13 war, musste ich gemeinsam mit anderen Pionieren einen „Maistanz“ aufführen. Als ich 24 Jahre später meine Habilitationsschrift einreichte, bekam ich auf der politischen Ebene Schwierigkeiten, weil ich keine sowjetischen Wissenschaftler zitiert hatte. Aber in der späten DDR änderte sich Vieles zum Besseren. Der Lyssenkoismus war überwunden. Auf unseren humangenetischen Tagungen wurden Forschungsergebnisse zur Vererbung von Intelligenz vorgetragen.

Schon kurz danach (1972) erließ die Regierung eine „Anordnung zur Förderung von Studentinnen mit Kind und werdenden Müttern, die sich im Studium befinden“. Studentenpaare mit Kind erhielten monatlich 200 bis 300 Mark zusätzlich zu ihrem Stipendium und weitere Vergünstigungen. Die Maßnahmen wirkten. Waren noch 1969 an der Leipziger Universität am Ende des dritten Studienjahres (im Alter von etwa 21 Jahren) drei Prozent der Studentinnen Mütter und acht Prozent ihrer Kommilitonen Väter, waren es 1986 bereits 33 bzw. 43 Prozent. Eine Bevölkerungspolitik, die Anregungen aus der Wissenschaft umsetzt, wäre heute in Deutschland undenkbar. Die DDR förderte während der letzten zwei Jahrzehnte ihres Bestehens die Geburt von Kindern, die mit den Anlagen zur Entwicklung einer hohen Intelligenz ausgestattet sind. Auch sollten Geburten möglichst ins junge Alter der Mütter verlegt werden. Kein Wunder! Das ZK der SED regierte das Land zwar diktatorisch, hörte aber auf den Rat von Wissenschaftlern. Trotzdem gab es jede Menge ideologische Barrieren, die unsere Freiheit einschränkten und die Wirtschaft und unsere Städte dem Verfall preisgaben. Die DDR musste weg!

Unerwartetes geschah

Wir hatten übersehen, dass im gleichen Maße, wie in der DDR Tauwetter einsetzte, im Westen eine Ideologisierung aufkam, die alle Lebensbereiche umfasste. Wissenschaftliche Beratung der Politik ist seitdem kaum noch gefragt, es sei denn, Ideologien kommen als „Wissenschaft“ daher. Abstruse Weltsichten, wie die des Merseburger Gender-Lehrstuhlinhaber Prof. Heinz-Jürgen Voß, der die Zweigeschlechtlichkeit der Menschen als eine Erfindung der Nazis bezeichnet, finden Eingang in alle gesellschaftlichen Bereiche, fatalerweise auch in die Pädagogik. Eltern, die ihre Töchter rosa anziehen, Puppen schenken und dieses Verhalten auch noch verteidigen, werden in die rechte Ecke gestellt. Im Zuge des staatlich verordneten „Gender Mainstream“-Prozesses wird, wie es Reiner Kunze ausdrückt, eine „Verkrüppelung der deutschen Sprache“ vorgeschrieben. Er, einer der renommiertesten deutschen Gegenwartsdichter, der 1977 vor der Freiheitseinschränkung durch SED-Ideologen in die Bundesrepublik geflohen war, sagt über das verordnete Gebot des Denkens und Redens: „Die Sexualisierung der Sprache durch die Diskreditierung geschlechtsübergreifender Wortbedeutungen hat eine eklatante Verarmung und Bürokratisierung der Sprache, die Denunzierung aller Sprechenden, die sich dagegen verwahren, und eine Einschränkung der Freiheit des Denkens zur Folge. Der Sprachgenderismus ist eine aggressive Ideologie, die sich gegen die deutsche Sprachkultur und das weltliterarische Erbe richtet, das aus dieser Kultur hervorgegangen ist.“
 
Zurück in den Lyssenkoismus

Im Westen erlangte die Genetik schon in den 30er Jahren eine Schlüsselfunktion zum Verständnis der Biologie. Der sowjetische Wissenschaftsscharlatan Trofim D. Lyssenko stritt die Existenz von Genen zur gleichen Zeit ab und seine Verteufelung der Genetik wurde durch Stalin zur Staatsdoktrin erhoben. Wer in der Sowjetunion und in der DDR bis in die 50er Jahre davon sprach, dass Gene (und nicht die Umwelt bzw. die Gesellschaft) die Eigenschaften von Pflanzen, Tieren und Menschen bestimmen, begab sich in Gefahr. In Stalins Reich sind viele hervorragende Wissenschaftler in Gefängnissen und Gulags regelrecht verreckt. In der DDR sind unangepasste Lehrer und Universitätsprofessoren vom Dienst suspendiert worden. Die Leugnung wissenschaftlicher Tatsachen bezeichnet man seitdem als Lyssenkoismus. Die oben erwähnte Negierung der genetischen Bedingtheit von Unterschieden zwischen Mann und Frau und die Durchsetzung der Genderideologie, wonach alles nur gesellschaftlich bedingt sei, sind klare Fälle von Lyssenkoismus.

Als Thilo Sarrazin die Feststellung artikulierte, dass die Intelligenz zu 70 Prozent genetisch determiniert sei, löste das einen Sturm der Entrüs-tung aus. Die These, dass Intelligenz genetisch bedingt ist, sei „eine zutiefst rassistische Argumentation“, formulierte unser damaliger Vizekanzler Sigmar Gabriel unisono mit anderen namhaften SPD-, Grünen- und Linkenpolitikern im Einklang mit der Pressemehrheit. Sarrazin hat nicht wegen seiner Thesen zu Problemen der Ausländerintegration, sondern wegen seiner Feststellung, dass Intelligenz erblich sei, ein Parteiausschlussverfahren bekommen. Dabei gibt es unter Wissenschaftlern nicht den geringsten Zweifel daran. Es zeigt sich eine klare Parallele zur Sowjetunion der 1940er und 50er Jahre bzw. zur frühen DDR. Nur hatte die DDR dies bereits in den 70er Jahren überwunden. In der Bundesrepublik Deutschland feiert der Lyssenkoismus eine triumphale Renaissance. Ein Großteil dessen, was man heute als „politische Korrektheit“ bezeichnet, ist nichts weiter als Lyssenkoismus. Zwar kommt man aufgrund von wissenschaftlicher Aufrichtigkeit nicht mehr ins Zuchthaus, aber man gilt dann als rechts und erfährt somit gesellschaftliche Ächtung.

In der DDR hat man Spitzentechnologien gewollt, aber nicht gekonnt. Anders in der Bundesrepublik: Computer sind Jobkiller, sagten die Gewerkschaften. Die damalige Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales Anke Fuchs (SPD) lehnte den „Kollegen Computer“ ab, weil er nicht in die Sozialkassen einzahlt. So hat man wohlwollend zugeschaut, wie Maschinenstürmer Produktionsanlagen für Mikrochips zerstörten. Als man später feststellte, dass man ohne Mikrochips nicht einmal mehr marktfähige Telefone und Küchengeräte, geschweige denn Autos, Lokomotiven, Medizintechnik und Kraftwerke bauen kann, war die Marktführerschaft für diese Schlüsseltechnologie bereits von Toshiba, Hitachi, IBM. usw. übernommen worden. Die Bundesrepublik hätte gekonnt, aber sie hat nicht gewollt. Immerhin gab es ein spätes Erwachen.

Anders auf dem Gebiet der Biotechnologie: Die Grüne Gentechnik, also die gezielte biotechnologische Veränderung von Pflanzen, wurde 1978 in Köln erfunden. An zahlreichen deutschen Instituten wurden weitere Grundlagen erarbeitet. Auch eine neue und sensationelle Methode, nämlich die der CRISPR-Cas9-Technik, mit der man Gene gezielt und präzise verändern kann (Genome Editing), hat eine ihrer Hauptwurzeln in Deutschland, wenn auch die Erfinderin, Emmanuelle Charpentier, Französin ist. Schon die konventionelle Gentechnik hat dazu geführt, dass indische Kleinbauern, die insektenresistente Baumwolle anbauen, ihr Einkommen um 30 Prozent erhöhen konnten. Bauern in Bangladesch, die früher ihr Gemüse bis zu 120 Mal in einer Saison mit Insektiziden gespritzt haben, schicken ihre Kinder nicht mehr mit der Giftspritze aufs Feld, sondern in die Schule. Nur in der EU ist die Gentechnik überreguliert. Nun bekämpfen deutsche Parteien, außer der FDP und Teile der CDU, das Genome Editing. Die gesamte Wissenschaft auf der ganzen Welt urteilt übereinstimmend: Genome Editing ist nichts anderes als Mutationszüchtung, nur schneller, genauer und mit einem – gegenüber der traditionellen Mutationszüchtung – extrem reduzierten Risiko für unerwartete Folgen. Letztere, Mutationszüchtung als „atomares Gärtnern“, fußt auf der zerstörerischen Wirkung von Strahlen der Art von Hiroshima. Das aber soll nach dem Willen sogenannter Naturschützer und den tonangebenden Parteien im Bundestag nicht reguliert werden. Sie reden vom Vorsorgeprinzip,, favorisieren aber das Unberechenbare. Welch ein Schwachsinn!

Im SPD-geführten Umweltministerium wurde eine „Fachstelle für Gentechnik und Umwelt“ geschaffen, die von dem esoterischen Verein „Testbiotech e. V.“ getragen wird, der seit zehn Jahren unermüdlich gegen den Einsatz von Gentechnik kämpft. Es ist offensichtlich, dass wir von einer politischen Klasse regiert werden, die zum Großteil, gemessen an ihrem naturwissenschaftlichen Kenntnisstand und der Bereitschaft, Fakten zur Kenntnis zu nehmen, getrost dem Bildungsprekariat zugeordnet werden kann (auch wenn einige Protagonisten formal eine akademische Berufsausbildung nachweisen können). Kürzlich haben 134 Nobelpreisträger die Regierungen der EU aufgefordert, im Interesse der Welternährung und der Gesundung der Umwelt die Agrogentechnik nicht mehr abzulehnen, sondern sie zu fördern. Wissenschaftsgesellschaften, wie z. B. die „Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften“ drängen seit Langem in diese Richtung. Doch Staat und Regierung halten sich solche Institutionen wie weiland die Fürstenhäuser ihre Hofnarren. Man kann mit ihnen vor anderen Herrschern angeben und sie dürfen auch Wahrheiten sagen. Aber letzten Endes amüsiert man sich über deren Argumente und richtet sich nach den Botschaften der Esoteriker.

Kürzlich hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass auch das Genome Editing der konventionellen Gentechnik gleichgestellt und stark reguliert werden soll, obwohl hier nur Mutationen ausgelöst werden, wie sie ebenso spontan in der Natur ablaufen. Damit ist diese innovative Technologie in Europa praktisch verboten. Unreguliert bleibt hingegen das atomare Gärtnern der Hiroshima-Art. Als Nichtjurist enthalte ich mich einer Kritik an Gerichten, zitiere aber den ehemaligen Verfassungsrichter des Landes Sachsen-Anhalt und Lehrstuhlinhaber an der Universität Halle, Prof. Dr. Winfried Kluth. Der hatte ein ähnlich geartetes Urteil zur Regulierung der Gentechnik des Bundesverfassungsgerichts  mit folgenden Worten gegeißelt: „Die Zulassung von Freiheitsbeschränkungen ohne jede empirische und fachwissenschaftliche Grundlage ist nichts anderes als ein Deckmantel für schlecht kaschierte Willkür, die vor einer gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung kapituliert“, und weiter: „Das Gericht verkennt und ignoriert mit seiner Vorgehensweise den wissenschaftlichen Meinungsstand und verletzt das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip, das für freiheitsbeschränkende Regelungen eine tragfähige sachliche Begründung verlangt.“

Gibt es noch Hoffnung?

Ideologien entstehen in Bäuchen und verbreiten sich in Bevölkerungen, die törichte Botschaften nicht hinterfragen. Deshalb kann man mit Fakten und Argumenten dagegen wenig ausrichten. Aber trotzdem werden Ideologien mit der Zeit überwunden. Der Hexenwahn dauerte viele hundert Jahre. Heute werden Teufelsaustreibungen nur noch selten praktiziert. Homophobie ist von einer Mehrheitsüberzeugung zur Minderheitenansicht geworden. Beim Antisemitismus sind wir noch nicht so weit. Nach einer Erhebung des Bundestages sind gegenwärtig noch 9 Prozent der Bevölkerung judenfeindlich eingestellt. Aber immerhin entschuldigen sich heute Kurorte dafür, dass sie einst mit dem Prädikat „judenfrei“ geworben haben. Die Gentechnikphobie wird erst durch eigenes Erleben der Bevölkerung abnehmen. Dürreperioden, wie in diesem Sommer, und die gerechtfertigten Verbote von Insektiziden werden die Ernteerträge extrem schrumpfen lassen, denn die Länder der EU werden wegen des Verbots des Genome Editings weder wassereffiziente noch schädlingsresistente Sorten haben.
 
In allen anderen Erdteilen sieht man keine Gründe, warum man nicht die Landwirtschaft ertragreicher und umweltfreundlicher gestalten sollte. Die Zunahme gentechnisch-verbesserter Pflanzen ist explosionsartig, sodass man künftig kaum noch andere Nutzpflanzen importieren kann. Damit werden gentechnikfreie Produkte unbezahlbar. Es ist Mode geworden, dass sich Städte und Landschaften als „gentechnikfreie Regionen“ bezeichnen, und dies, obwohl überall in der EU 70 Prozent der Baumwollprodukte einschließlich der Banknoten aus gentechnisch verbesserter Baumwolle bestehen und etwa Dreiviertel aller verarbeiteten Lebensmittel sowie nahezu alle Waschmittel gentechnisch produzierte Ingredienzien enthalten. Medizinische Labordiagnostik geht ohne Gentechnik kaum noch und selbst die Protagonisten der gentechnikfreien Regionen lechzen im Krankheitsfall nach gentechnisch produzierten Medikamenten für sich und ihre Kinder. Die spritzen sie sich dann direkt unter die Haut. Damit haben jene Parlamente, die solche Beschlüsse fassen, nicht nur intellektuell, sondern vor allem in Hinblick auf Redlichkeit und Moral ein Niveau erreicht, das nicht mehr zu unterbieten ist. Eines Tages werden sie sich dafür entschuldigen und finden sich dann in guter Gesellschaft mit den Stadträten der erwähnten Kurorte, die zu Recht wegen der einst verwendeten Werbebotschaft „judenfrei“ vor Scham am liebsten im Erdboden versinken möchten. Prof. Dr. Reinhard Szibor

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