Theorie in der Krise?

Das Wissen der Menschheit vervielfacht sich rasant. Behalten wir dabei den Überblick oder ist die Informations-Spreu vom Fakten-Weizen gar nicht mehr zu trennen? Ein kritischer Blick auf Wissensfluten und die Erkenntniszerfaserung seit Anbruch des Internetzeitalters.
Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.“ Mit diesen Worten weist Mephisto im 1. Teil von Goethes Faust in der Studierzimmerszene den Schüler auf die Unzulänglichkeit eines rein theoretischen Wissens hin. Der Satz des Weimarer Dichterfürstens ist aktuell wie nie.  Neuere Schätzungen gehen davon aus, dass sich das Wissen der Welt etwa alle fünf bis zwölf Jahre verdoppelt, wobei sich diese Rate höchst wahrscheinlich noch beschleunigt. Die wichtigste Rolle spielt dabei die Verbreitungsgeschwindigkeit von Informationen über das Internet. Doch Geschwindigkeit ist nur ein Aspekt. Zu Goethes Lebzeiten schätzt man die Anzahl der Menschen mit wissenschaftlich-technischer Ausbildung weltweit auf unter eine Millionen. Von 1850 bis 1950 verzeichnet die Menschheit einen Anstieg von einer auf 10 Millionen akademischer Akteure. Von 1950 bis 2000 stieg deren Anzahl von 10 auf 100 Millionen. Tendenz weiter steigend.
Als Informationsexplosion bezeichnet man diese Entwicklung. Die Menge an Inhalten nimmt in der Informationsgesellschaft im Verhältnis zu anderen Bereichen der Gesellschaft überproportional zu. Allerdings bezieht sich diese Einschätzung ausschließlich auf Quantitäten, nicht notwendigerweise auf  die Qualität neuer Informationen. Ob mit dieser Wissensexplosion auch tatsächlich in derselben Relation ein nützlicher Wissenzuwachs entsteht, bleibt offen. Man muss wohl eher das Gegenteil annehmen und könnte von einer Krise der Theorien sprechen.
Zunächst ein Blick in die Geschichte: Vor der Erfindung des Buchdrucks blieb Wissensvermittlung eine ziemlich geschlossene Veranstaltung in christlichen Denkfabriken, vorrangig Klöstern und später in Universitäten. Als älteste Universitätsgründung zählt Ez-Zitouna, die sich heute im Stadtteil Montfleury der tunesischen Hauptstadt Tunis befindet. Erst 1348 entstand in Prag die erste mitteleuropäische Universität bzw. erste Forschungseinrichtung im Heiligen Römischen Reich nördlich der Alpen. Heidelberg (1386), Köln (1388) und Erfurt (1389) sind die ältesten Wissenschaftsinstitutionen auf heutigem deutschen Staatsgebiet. Bücher wurden in dieser Zeit noch von Hand abgeschrieben und waren deshalb nur wenigen Menschen zugänglich. Der Buchdruck brachte die erste Wissensrevolution. Und die ging bald darauf einher mit neuen Theorien, Auslegungen und Vorstellungen über das Weltverständnis. Die Reformation war Folge und Ausdruck dieser neuen Verbreitungsqualität.
Trotz der damals schon rasanten Ausbreitung von Schriften blieben theoretische Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Forschungsgegenständen das „Handwerk“ weniger, die dafür über entsprechende Zeit und existenzielle Möglichkeiten verfügten. Schwung nahm die Erkenntnissuche mit der Indus-trialisierung auf. Neue Industrien investierten mehr und mehr in praktische und theoretische Ingenieursarbeit. Grundlagenforschungen in Physik, Chemie, Biologie und Medizin verbreiteten sich schnell. Untersuchungen zu einzelnen Forschungsgegenständen dauerten lang. Ehe die jeweilige Fachwelt sich Ergebnisse ansah, überprüfte und schließlich in den Wissenskanon übernahm, konnten Jahre vergehen. Auf zahlreichen Gebieten blieb dieser Prozess in seinem Ablauf ein zäher und zögerlicher. Selbst das Genie Albert Einstein blieb Zeit seines Lebens gegenüber der wahrscheinlichkeitstheoretischen Erklärung der Quantenmechanik skeptisch. Mit „Gott würfelt nicht“ fasste er seine Kritik zusammen. „Aber es kann doch nicht unsere Aufgabe sein, Gott vorzuschreiben, wie Er die Welt regieren soll“, antwortete ihm Ende der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts Niels Bohr. Inzwischen haben sorgfältige Experimente, basierend auf der Bellschen Ungleichung, die quantenmechanischen Überlegungen falsifiziert und sie gehören heute zu den wissenschaftstheoretischen Grundlagen.
Mag innerhalb der komplexen experimentellen sowie extrem geräteaufwendigen Elementarteilchen- und Astrophysik der Forscherkreis noch übersichtlich sein, gibt es vor allem auf sozialwissenschaftlichen Gebieten einen Aufwuchs an Publikationen, die von niemandem mehr überblickt werden können. Allein von 1999 bis 2011 stieg die Zahl der versicherungspflichtig beschäftigten Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler in Deutschland von 69.247 auf 97.030 (Quelle: statista.com). Bedenkt man, dass deren Anzahl allein von 2010 bis 2011 um rund 3.800 anstieg, lässt sich vermuten, dass mittlerweile die Marke von 100.000 überschritten wurde. Knapp 9 Prozent beträgt der Anteil naturwissenschaftlicher Abschlüsse und Absolventen von Ingenieurwissenschaften in Deutschland. Gegenüber den USA hat Deutschland damit noch einen knappen Vorsprung, zumindest prozentual.
Akademikerquoten reichen jedoch nicht, um Wissenszuwachs und Informationsexplosion sowie deren Folgen möglicher theoretischer Überkapazitäten zu begründen. Die weltweite Vernetzung führt außerdem zu einem offenbar unerschöpflichen Potenzial an Rezipienten. Jeder, der sich für ein bestimmtes Gebiet interessiert, kann heute alle möglichen wissenschaftlichen Betrachtungsaspekte konsumieren. Es entsteht allerdings in der Flut an Äußerungen über ein Thema kein wirklicher theoretischer Streit und eine sich vertiefende Erkenntnis, sondern eher ein Meinungssammelsurium, dass sich in Foren und sozialen Netzwerken in Pro- und Kontraparteien hochputscht. Wenn dann Politik und Medien in der Thematik mitspielen und öffentliche Trends setzen, löst sich schnell eine Faktenlage in Interpretationsdunst auf.
Kürzlich narrten zwei amerikanische Wissenschaftler mit ihrem Quatschbeitrag „Der konzeptuelle Penis als soziales Konstrukt“ im Fachblatt „Cogent Social Sciences“ die Fachwelt für Genderforschung. „3.000 Wörter vollkommenen Unsinns“ hätten sie geschrieben, sagen die beiden selbst. Der Aufsatz hätte niemals publiziert werden dürfen. So ein Beispiel ist jedoch nur die Spitze des Eisberges. Eine zunehmende Anzahl diskutierender Interessierter und vernetzter Experten kann heute jeder Theorie den Garaus machen. Noch bevor eine jahrelange akribisch geführte wissenschaftliche Arbeit Einzug in einen Wissenskanon fände, kann sie schlimmstenfalls im Internet zerpflückt, abgewertet und paralysiert werden, ganz ohne experimentelle Gegenprobe. Wissenszuwachs ist in der Epoche des Infotainments gleichzeitig Wissensauflösung. Die verzweifelte Suche von Parteien nach tragfähigen politischen und ideologischen Fundamenten spricht diesbezüglich Bände. Offensichtlich verkürzt sich die Halbwertzeit, unter der eine Theorie auch nur den Ansatz von allgemeiner Überzeugung erfahren könnte, auf Tages- oder Wochenfristen.
Ehrlicherweise müsste man in diesem Prozess eingestehen, dass kein Mensch mehr allein in der Lage ist, eine einigermaßen zusammenfassende Erklärung für welche Ursachen und Wirkungen auch immer  abgeben zu können.
Zwei wesenseigene Bedingungen der menschlichen Natur befördern diese Entwicklung. Erstens: Niemand will Bekanntes wiederkäuen. Zweitens: Niemand will ständig bekannte Informationen aufnehmen. Der menschliche Geist ist ein dynamisches Bewertungskonstrukt, dass sich schwer mit Informationsstillstand zufrieden gibt. Daraus nährt sich das Bedürfnis fortwährend Neues herausfinden zu wollen – unabhängig von dessen Tatsachenkraft – und das millionen- oder gar milliardenfache menschliche Bedürfnis, Neues erfahren zu wollen, wirkt dabei als Katalysator. Hinzu kommt der Aspekt, dass eine wachsende Anzahl von Wissenschaftlern oder auch Hobby-Experten die Wissensgebiete in immer kleinere Scheiben schneidet und aus dem angeblichen Erkenntnisgewinn wiederum Verallgemeinerungen für das Große und Ganze ableitet.
Prinzipiell wohnt der riesigen Vernetzung geistiger Kapazitäten ein Gerechtigkeitsaspekt inne. Jeder kann irgendwo mitwirken oder wenigstens mitdiskutieren. Jeder fühlt sich auf seine Weise als Experte auf seinem Gebiet. Allerdings bleibt es eben fraglich, ob aus diesem Prozess letztlich wirklich erkenntnistheoretische Ableitungen für Lebensentwürfe, lebensnahe Politik oder wirtschaftlich kalkulierbare Wege gewonnen werden können. Fragen nach einem gesellschaftlichen oder gar individuellen Wohin erfährt unter dieser Entwicklung eher weitere geistige Nebel anstatt Orientierung. Man kann sich dieser Genese bewusst werden und gegenüber der Informationsexplosion Gelassenheit entwickeln. Man kann sich aber auch darin verstricken und möglicherweise „wahnsinnig“ werden. Es ist derzeit eher nicht zu erwarten, dass sich dieser Trend abschwächt. Im Gegenteil, er wird sich wahrscheinlich sogar verstärken. Einen Forschungszweig Idiotologie gibt es wohl derzeit noch nicht. Vielleicht taugt der Begriff für neue theoretische Erkenntnisse. Es existiert schließlich auch schon eine Fake-News-Forschung. Grau bleibt dennoch alle Theorie, egal wie und wofür sie sich ausbreitet. Thomas Wischnewski

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