Schön einfach

Prof. Dr. Gerald Wolf über das Phänomen der Eingrund- und Vielgründe-Begründungen

Als Kind glaubte man an den Weihnachtsmann, fürchtete ihn wegen der Rute (mit der er immer nur drohte), und liebte ihn wegen seiner Geschenke. Dann kam heraus, es gibt gar keinen, der Nachbar ist es. Der hatte ihn immer bloß gespielt. Ich selbst erinnere mich, wie unsere Kinder bedauerten, dass ich immer gerade dann nicht da war, wenn der Weihnachtsmann an die Tür pochte. Als die Sache später ans Licht kam, war die Enttäuschung groß. Und bitteschön, ich sollte im nächsten Jahr doch einfach wieder so tun als ob! Mit dem Glauben an den Weihnachtsmann und mit dem Osterhasen, mit Schneewittchen und der eifersüchtigen Königin, mit dem Allwissen und Allkönnen von Mutter und Vater und späterhin der Lehrer war die Welt einfach. Und irgendwie auch schöner. Allemal die Welt mit dem treusorgenden lieben Gott, der einen vor jeglicher Unbill schützt.

Die einfachen Erklärungen haben nicht nur für Kinder ihren Reiz. Vom Offenkundigwerden tieferer Wahrheiten halten oft auch Erwachsene nicht viel, schon gar nicht von solchen, wie sie die Wissenschaft liefert. Die Welt würde dadurch ihrer Schönheit beraubt, ja geradezu entzaubert, meinen sie. Warum zieht sich das Leben im Winter zurück? Weil, lieben diese Menschen zu antworten, auch die Natur ihren Schlaf braucht. Warum färben sich die Blätter im Herbst so bunt? Weil Schönheit im Wesen der Dinge liegt. – Schön einfach ist das, einfach und schön. Genaueres über die eigentlichen Gründe zu wissen, ist aufwändig, kostet Mühe und – nützt eh nichts.

Huhn und Ei

Und tatsächlich, wozu wissen wollen, wie das geht, zum Beispiel wenn ein Huhn gackert und hernach ein Ei legt? Ein Ei, ein rundes Ding, Kalkschale drum, drinnen eine gelbe Kugel, fertig. Was schon gibt es da groß herumzurätseln, wie so etwas im Vogelbauch entsteht? Oder wenn der Vogel sich drei Wochen lang draufsetzt, es dann in dem Ei piept, und ein Küken herausklettert. Zuvor ist der Hahn mal auf das Huhn gestiegen, und davon kommt das eben alles. Ein-Grund-Begründungen. Ein Kind, das nach dem Warum fragt, wird ratlos dreinschauen und – was anders? – diese „Erklärung“ irgendwann hinnehmen. Wenn es wissen will, warum das Wasser kocht oder bei Kälte fest wird, heißt es womöglich, ist nun mal so. Wenn es kalt ist, dann gefriert das Wasser eben, wird zu Eis. Bei unter null Grad passiert das. Aber, mag das Kind weiter fragen, wenn man da Salz drauf streut, Streusalz, dann …? Dann? Ach Quatsch, heißt es da, immerzu diese Fragerei, nimm lieber den Finger aus der Nase!

Hatten Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, als Kind Ähnliches erlebt, bei den Kindern von nebenan vielleicht? Ein-Grund-Begründungen, und gut. Wozu auch sich den Kopf zerbrechen, ob nun über gelegte oder ungelegte Eier, über kochendes Wasser und Eis? Wenn die Vögel im Frühling wieder zu singen anfangen, klingt das schön, und es ist doch wohl ziemlich egal, wie man diese Kerlchen im Einzelnen nennt. Genauso das Unkraut im Garten. Weg muss es, und gut. Warum Frank von nebenan Krebs bekam und schließlich daran gestorben ist, man selbst aber lebt, bisher jedenfalls – was ändert es, wenn man das alles genauer wüsste? Zum Glück gibt es ja für jedes Problem Fachleute, und wenn die nichts ändern können, dann ist es, wie es ist! Und wenn alle sagen, dass etwas so und so ist, auch die Fachleute, dann wird das schon stimmen. Zum Beispiel die Sache mit der Globalisierung und der Armut, der schlechten Luft, oder dass die Gefahr rechts ist und eine andere im Glyphosat liegt, oder dass die Kernkraftwerke alle abgeschaltet werden müssen.

Man selbst hat ja ebenfalls etwas zu bieten, ist vom Fach, ist tüchtig im eigenen Beruf und so verteilt sich eben das mit dem Wissen-müssen und dem Nicht-wissen-müssen auf die Menschen ringsum und weltweit. Was geht unsereinen die ganze Politik an, die machen sowieso, was sie wollen, heißt es dann. Ob die Flüchtlinge für uns nun ein Geschenk sind oder gerade nicht, welche Partei da was sagt und denkt und macht, und so weiter und überhaupt, das ist deren Sache. Hängt sowieso alles nur am Gelde. Auf jeden Einzelnen von uns trifft das zu, auf die Unternehmen und Verwaltungen, die Staaten – Geld regiert Welt. Egal ob es sich dabei um bedrucktes Papier handelt, um Gold oder um Schulden, die hin- und hergeschoben werden. Neuerdings kommen ja noch die digitalen Währungen hinzu. Überhaupt, dem Digitalen, dem gehört die Zukunft. Sowieso. Wer nicht genügend Bits und Bytes bewegt, wird scheitern oder zumindest zurückbleiben. Jeder trägt da den einen, alles entscheidenden Grund vor.

Trotzdem, die Menschen sind verschieden. Die einen kommen bei Urlaubsreisen kaum raus aus dem Bereich des Swimmingpools, die anderen kaum rein. Sie müssen immerzu in der Gegend herumforschen. Die Einen wollen mal gründlich abschalten, wollen endlich ihre Ruhe haben, und den anderen machen im Hinterteil ständig Hummeln zu schaffen. Schon weit vor Reisebeginn haben sie sich über das Land kundig gemacht. Das Fremde lockt. Mit dem Fernglas am Hals und dem Wörterbuch in der Hand laufen sie herum, besuchen jede Kirche und jeden Tempel, gucken den Leuten in die Fenster, auf den Märkten fingern sie in den Auslagen herum, naschen von dem und probieren dies. Und nichts, aber auch gar nichts bleibt vor ihrem Fotoapparat verschont.

Vielgründe-Begründungen

Dieselben sind es auch, die gern genauer wissen wollten, was das eigentlich für Gründe sind, die das Wasser kochen und die gefrieren lassen, und wie das kleine blau blühende Pflänzchen heißt, dass sich da im Tomatenbeet breitmacht. Natürlich auch, was das für ein Vogel ist, der so unscheinbar grau aussieht, dafür aber wundervoll singt. Klimaveränderung, ob sie, falls sie überhaupt stattfindet, menschgemacht ist, und wenn, ob es wirklich am CO2 liegt oder welche anderen hundert Gründe es dafür geben mag. Das Wissen darum hat für diese Menschen persönlich keinerlei Konsequenz, und trotzdem. Obwohl in ganz anderen Berufen zuhause, lassen sie sich von dem Gedanken faszinieren, dass die Teilchen, die unsere Materie aufbauen, nicht etwa kleine Kügelchen sind, sondern gleichsam aus Nichts bestehen, nur Energiewolken sind, nichts wiegen und erst durch das verrückte Higgs-Feld eine Masse kriegen. Und ob es tatsächlich Paralleluniversen gibt, fragen sich die, die immer alles genauer wissen wollen. Dabei wissen sie noch nicht einmal, wozu sie das alles wissen wollen. Zum Beispiel, dass auch die schlausten Hirnforscher nicht sagen können, was Bewusstsein eigentlich ist, und was die eigentliche Seele ist. Ja, dass es noch nicht einmal möglich scheint, einen Verbund aus fünf oder zehn konkreten Nervenzellen in seiner Arbeitsweise so zu kalkulieren, dass man genau sagen könnte, was „hinten“ rauskommt, wenn „vorn“ eine bestimmte Information hineingesteckt wird.

Das Wunder Gehirn lässt sie einfach nicht in Ruhe, schon weil sie selber eines haben. Bei jedem von uns, so stünde geschrieben, arbeitet es mit etwa 100 Milliarden Nervenzellen und vielen Billionen von Zellteilen, die für jeweils ganz bestimmte Aufgaben zuständig sind. Als Viel-Billiarden-Ursachengefüge sei das Gehirn nie und nimmer wirklich begreifbar, bestenfalls in seinen Funktionsprinzipien. Das aber immerhin!

Jene, die ständig auf Suche nach Neuem sind, erleben eine Art Kick, wenn sie erfahren, dass wegen der ungeheuren und völlig unvorstellbaren Komplexität des menschlichen Gehirns kein Mensch in der Lage ist, sich selbst wirklich zu begreifen, geschweige denn andere. Und dass wegen der tausenderlei klimatischen Faktoren sich noch nicht einmal das Wetter der folgenden Tage genau vorhersagen lässt, allemal nicht das Klima der nächsten Jahrzehnte. Welch Vermessenheit, wollte jemand sagen, wie sich das Gefüge aus den unschätzbar vielen Faktoren entwickelt, dem wir vor und nach der Geburt ausgeliefert sind – das also, was landläufig „Schicksal“ genannt wird. Der Wissensdurst solcher Menschen lässt sich einfach nicht löschen. Sie wollen wissen, was das Leben „eigentlich“ ist und was (und ob überhaupt etwas) nach dem Leben kommt. Einzig genau wissen sie, dass sie sich ohne den Versuch um Durchblick nicht wirklich wohlfühlen können. Auch wenn der Versuch noch so aussichtslos ist und sie Gefahr laufen, sich dabei den Kopf zu zerbrechen.

Und Sie selbst, verehrte Leserinnen, verehrter Leser? Sie gehören zu den zuletzt genannten Menschen. Ansonsten wären Sie nicht bis an diese Stelle hier gelangt. Hätten, weil „langweilig“, gleich zu Anfang aufgegeben. Was ist das, was Sie von den anderen unterscheidet? Man könnte meinen, der Bildungsgrad. Doch schauen Sie sich um, und Sie werden feststellen, dass es der Grad der formellen Art eher nicht ist. Also der in Hinblick auf schulische Laufbahn, akademische Titel usw. Vielmehr trifft man in allen Berufszweigen und auf allen Ebenen Menschen an, die mehr als andere am Allgemeinen interessiert sind und sich mit Eingrund-Begründungen nicht zufriedengeben. Manche von ihnen brennen vor Wissensgier, die anderen schmeißt so schnell nichts um.

Im Untergrund wirkt da eine der fünf großen Klassen von Persönlichkeitseigenschaften, „Big Five“ genannt (nicht zu verwechseln mit den Big Five der Safari!). Hier ist es die Klasse „O“ (von engl. „openness“, Grad der Offenheit für neue Erfahrungen). Alle diese Persönlichkeitsmerkmale sind jeweils zu etwa 50 Prozent in unserem Erbgut festgelegt. Um die andere Hälfte muss sich gekümmert werden, in erster (!) Linie durch das Elternhaus, in zweiter durch die Schule und in dritter (späterhin ausschließlich) durch sich selbst. Die Mühe lohnt sich, der Appetit kommt bekanntlich mit dem Essen.

Gut ist es um eine Gesellschaft bestellt, die möglichst viele Menschen mit einem hohen Grad an Offenheit für Erfahrungen beherbergt. Es sind Menschen, die, Goethe folgend, erkennen wollen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Und noch besser geht es einer Gesellschaft, die solche Glieder als Schatz begreift und als ihre Elite pflegt. Sie werden es durch Entde-ckungen und Erfindungen, durch Probierlust und Unternehmungsgeist danken.

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