Geschlechter ideologisch aufgewogen

Studenten verhindern einen Vortrag an der Magdeburger Universität. Über politische Motive, wissenschaftlichen Streit, Gerechtigkeit in Geschlechterfragen, die Ideologisierung akademischer Befunde und missverständliche Deutungen. Eine Streitschrift.
Das Ergeignis sorgte für bundesweite Schlagzeilen. Für den 12. Januar hatte die Campus Alternative Magdeburg, eine AfD-nahe Studentenvereinigung, im Hörsaal 6 an der Fakultät für Humanwissenschaften der Otto von Guericke Universität einen Vortrag unter dem Motto „Gender an der Uni?! – Gendermainstreaming, der gesellige Zeitvertreib für Leute ohne Probleme“ angekündigt. Zum Vortrag, den der emeritierte Professor für Biologie und Neurowissenschaften Gerald Wolf halten wollte, kam es nicht, weil Studenten den Hörsaal blockierten. Blockade, Pfeifkonzert, ein Böller und schließlich Handgreiflichkeiten zwischen Protestlern und Begleitern um AfD-Landesvorsitzenden André Poggenburg führten zum Eingreifen der Polizei und zur Vortragsabsage.
Was liegt unter diesem verbitterten Szenario, in dessen Folge man sich nun gegenseitig mit Beschimpfungen über „Rechtsextremismus“ oder „Linksfaschismus“ begegnet? Den akademischen Streit könnte man – wenn es nicht so ernst wäre – auf die Frage reduzieren: Was war zuerst da? Huhn oder Ei? Seit einiger Zeit streiten jedoch Naturwissenschaftler mit Sozialwissenschaftlern über das bestimmende Primat beim Geschlechterverständnis und ob diese hauptsächlich biologisch evolutionär bestimmt sei oder deren Ausprägung doch eher konstruktivistische Wurzeln in der menschlich kulturellen Entwicklung findet. Ein Problem der Auseinandersetzung dabei ist, dass die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen vorrangig von ihren unterschiedlichen Untersuchungsansätzen aus argumentieren und es wenig interdisziplinäre Forschungsarbeiten gibt. Ein weiteres Problem lässt sich darin fassen, das Ergebnisse der Genderforschung vielfach Einzug in politische Tagespolitik gehalten haben. Benachteiligungsaspekte von Frauen bzw. von Minderheiten in der Gesellschaft sollen überwunden werden. Die flächendeckende Berufung und Einstellung von Gleichstellungsbeauftragten ist beispielsweise ein solches Ergebnis.
Es darf grundsätzlich keinen Einwand geben, dass Gerechtigkeitslücken im Zustand der Gesellschaft aufgedeckt und überwunden werden müssen. Ein Vorwurf im wissenschaftlichen Disput ist der mittlerweile entstandene Eindruck einer Dominanz an Genderforschungsthesen. Hier muss die Wurzel einer ideologischen Gegenbewegung gesehen werden, die von der AfD aufgegriffen und thematisiert wird und neben der Kritik an politischen Entscheidungen zur Flüchtlings- und Einwanderung ein zweites Hauptfeld dieser Partei darstellt.
Denkbar ist, dass die Politisierung der Genderthematik insgesamt zu einer Verständnisverkürzung geführt hat. Man kann schließlich zu der Überzeugung gelangen, dass eine personelle Ausbreitung des Forschungsgegenstandes auf dem Gebiet Gender ganz natürlich zur Aufdeckung immer neuerer Ungerechtigkeiten führt. Fraglich ist aber, wenn aus solchen theoretischen Interpretationen Tagespolitik wird und daraus ein lebensnahes Verständnis in der Breite der Bevölkerung abgeleitet werden sollte.
Während Wissenschaft analysiert und differenziert, bleiben in der gesellschaftspolitischen Sphäre entweder vereinfachende oder verklärende Botschaften übrig bzw. das Forschungsfeld ist mittlerweile derart unübersichtlich geworden, dass es in seinen Verzweigungen und Veröffentlichungen von Außenstehenden gar nicht angemessen überblickt werden kann. Dieser Trend kann bei der sozialwissenschaftlichen Disziplin in seiner Außenwirkung vermutet werden.
Eine weitere Kritik muss an die Adresse der gesellschaftswissenschaftlichen Geschlechterforschung gerichtet werden: In öffentlichen Debatten wird überwiegend von „männlichen Machtstrukturen“, „Männer-Netzwerken“ oder „maskulinem Dominanzgehabe“ gesprochen, um daran strategische Vorteile von Männern gegenüber Frauen zu demonstrieren. Die überwiegende Anzahl besetzter Führungspositionen durch männliche Bewerber wird hier gar nicht bestritten. Es muss jedoch die Frage erlaubt sein, welcher Gerechtigkeitsaspekt aus einer derart vereinfachten und schließlich diffamierenden Sichtweise gegenüber dem männlichen Geschlecht folgen sollte? Das Muster dieser einseitigen Verantwortungszuweisung hat im Kern denselben Charakter, den man Verschwörungstheoretikern vorwirft. Gefragt werden muss ebenso kritisch, wer ist der oder die Untersuchende und was ist der angelegte Maßstab? Hängen bleibt nach vielen Jahren dieser in die Öffentlichkeit getragenen Einschätzung, dass es also irgendwo Gremien gibt, die in besonderer Weise daran stricken, Frauen im Karrierefortkommen zu behindern. Wenn dies so wäre, sollte man schon Ross und Reiter benennen. Das dürfte innerhalb einer Forschungsarbeit nicht schwer sein. Existieren solche Geheimgremien nicht, bleibt der Vorwurf ein äußerst zweifelhafter.
Das Grundproblem des Streits ist derzeit gar nicht lösbar. Kein Wissenschaftsbereich – weder Biologie oder Genetik noch sozialpsychologische Fachbereiche – kann nach dem Stand der Forschungen eine beispielsweise mathematisch fassbare Angabe darüber machen, welcher Anteil – der genetische oder der soziale – mehr Einfluss auf die menschliche Persönlichkeitsprägung hätte. Beide Seiten wirken dabei derart komplex mit, dass dazu weder eine verallgemeinernde und schon gar keine individuelle Aussage getroffen werden könnte. Das wird übrigens von keiner Seite bestritten. Und in der Biologie herrscht durchaus schon lange das Verständnis, dass die menschliche Phylogenese immer auch ihren Ausdruck in biologischen Merkmalen oder Genen findet. Seitdem die US-amerikanische Philosophin und Philologin, Judith Butler, die zentrale These aufstellte, dass Körper nicht unabhängig von kulturellen Formen existieren: selbst wenn sie als naturgegeben erscheinen, seien sie das Konstrukt normativer Ideale, steht diese Annahme unter starker Zurückweisung. Dabei geht es in der Genderforschung überhaupt nicht um die Ignoranz gegenüber biologischen Tatsachen. Allerdings erzeugt eine akademische Betonung sozialwissenschaftlicher Aspekte eben solcher Grundlagen den Eindruck, als würden naturbestimmende Fakten keine Rolle spielen. Wenn Frau Dr. Sandra Tiefel als Gleichstellungsbeauftragte der Universität ihren Blog mit den Worten überschreibt „Das Ende des Sex: Biologisches Geschlecht ist gemacht“, muss sie sich nicht wundern, dass sie dafür im Allgemeinen Kopfschütteln erntet. (Frau Dr. Tiefel wurde vom Autor für eine Einordnung dieser These angefragt. Eine Antwort gab sie leider nicht.)
Außerdem wird selten deutlich, wo eben Abgrenzungen zu natürlichen Grundlagen von sozial-wissenschaftlichen Interpretationen gemacht werden. In der Tierwelt unterscheiden wir schließlich auch zweifelsfrei Geschlechter und können dort wohl kaum sprachkulturelle Einflüsse auf deren Prägung vornehmen.
Da jedoch Aspekte der Genderforschung umfassend ins aktuelle Leben eingreifen – gendrifizierte Sprache, Differenzierungsvorgaben und Gleichstellungsvorgaben auf allen Ebenen – muss angenommen werden, dass dies in einem breiten Verständnis häufig zu Verwirrungen führt. Die Benennung bzw. Herauslösung vielfältiger Identitäten – die individuell alle ihre Berechtigung haben sollen – löst eben als Nebeneffekt auch bisher realitv stabile Identitätsvorstellungen auf oder führt möglicherweise zu einer gewissen Orientierungslosigkeit. Gerechtigkeit für jedes Individuum bleibt eine gesellschaftlich notwendige Grundforderung. Vielleicht sei an dieser Stelle die provokante Frage gestellt, warum es keine gesetzlichen Vorschriften zur Einführung eines Gesundheitsbeauftragten in jeder größeren Organisation gibt? Der Nutzen für die Allgemeinheit wäre sicher ein immens hoher.
Prof. Gerald Wolf, der am 12. Januar einen Vortrag über den Stand hirnbiologischer Forschungen unter Berücksichtigung von Geschlechterunterschieden halten wollte, hat nach Wissen des Autors noch nie einen Standpunkt vertreten, dass es einen genetisch verifizierbaren Anhaltspunkt gäbe, aus dem man irgenwie ein Geschlecht über das andere stellen könnte. In der Folge des Aufruhrs gegen die AfD-Veranstaltung musste er sich jedoch einige böse und vereinfachte Unterstellungen in diese Richtung gefallen lassen. Und da sind wir nun bei den politischen Motiven des gesamten Unterfangens:
Zu glauben, dass man sich als Wissenschaftler mit vielschichtigen Untersuchungen und Belegen in einer politischen Sphäre angemessen artikulieren könnte, dürfte man gerade noch als blauäugig annehmen. Dass die politischen Proklamationen zur Genderforschung von der AfD extrem verkürzt sind, ist ebenso eine Tatsache. So kursiert dort auch die Parole, dass die Genderwissenschaft und daraus abgeleitete politische Vorgaben maßgeblich zur Auflösung der Ehe geführt hätte. Das ist natürlich hirnverbrannter Kinderkram. Solche Voraussetzungen führten an der Fakultät zur Abwehrreaktion der Lehrenden und Studenten. Ein friedlicher Protest wäre verständlich, eine gewaltsame Auseinandersetzung bleibt jedoch undemokratisch.
Das kann die AfD nun gut für sich ausschlachten. Dass Landeschef Poggenburg und weitere, ausschließlich männlichen Protagonisten mit Vortragsredner Wolf im Schlepptau kaum einen detaillierten Wissenschaftsdisput (außer Prof. Wolf) als Nichtwissenschaftler führen wollten, liegt irgendwie auf der Hand. In der politischen Auseinandersetzung zu den Positionen über Gendermainstreming hört man sich bereits seit längerem nicht mehr richtig zu. Insofern kann das Thema angemessen nur auf wissenschaftlichem Boden ausgetragen werden. Doch selbst da scheint das Tuch zwischen den Disziplinen zerschnitten. Die Tendenz, dass der Disput jetzt beiderseits zu eskalierender Abwehr und gegenläufigen Bewegungen führt, macht schon deutlich, welche  Konfrontationskraft hier aufgebaut wurde.
Vielleicht reift wenigstens auf der Ebene politischer Vernunft die Einsicht, dass das Zusammenwirken von Menschen, egal welchen Geschlechts,  vorwiegend ein Selbstorganisationsprozess ist und weniger durch kurzfristige Regelvorschreibungen gesteuert werden kann. Innerhalb der DDR-Doktrin hatte man mal von der Herausbildung einer „sozialistischen Persönlichkeit“ geträumt. Es gibt also gute historische Belege dafür, dass intellektuelle Theorie-Vorgaben von oben – egal in welcher politischen Farbe – geringen Einfluss in den Realvorstellung von Menschen und deren tatsächliche Lebenswirklichkeit finden. „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum“, lässt Goethe Mephisto im Studierzimmer zu Faust sagen. Diese schöne Maxime sollte man sich in diesem wissenschaftlichen und politischen Streitfall öfter mal zu Herzen nehmen. Thomas Wischnewski

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