Expansion der Verwirrung

Unter einer virtuellen Informationsexpansion öffnet sich ein Graben zwischen Fassbarem und Unfassbarem. Vernetzung schafft offenbar nicht nur Wissenszugang, sondern auch ein höheres Potenzial an Desinformation. Ein Gedankenexperiment.

Vom beginnenden Informationszeitalter sprach man am Anfang des neuen Jahrtausends als viele Millionen Menschen weltweit Zugang zum Internet erlangten. Fraglich ist, ob der Begriff heute kritiklos weiterexistieren kann oder nicht eher eine neue Qualität einer Epoche der Desinformation anbricht. Und das nicht, weil die Menschheit über weniger Wissen verfügte, sondern weil für jeden Einzelnen die Informationsexpansion vielleicht eher zu einer Implosion des Verstehens führt.
Im Februar veröffentlichte der E-Maildienst GMX/Web.de eine Statistik, dass in Deutschland 2016 über 625 Milliarden E-Mails versendet wurden. In diesem Jahr rechnet man mit einem Anstieg auf 732 Milliarden. Dazu kommen fast 700 Millionen Nachrichten über den Messengerdienst Whatsapp allein in Deutschland. In Facebook tummeln sich mittlerweile 28 Millionen Deutsche, 21 Millionen davon täglich. Wieviel Daten in dem Netzwerk erzeugt werden, lässt sich nur anhand einer weltweiten Statistik wiedergeben: Nutzer verbringen durchschnittlich zwanzig Minuten am Tag auf der Seite. In Facebooks Datenlager sind 300 Pentabyte gespeichert (1 Pentabyte = 1.000.000.000.000.000 Byte. 4 Pentabyte kommen jeden Tag dazu. Facebook verfügt über 100 Millionen Stunden Videozeit täglich. Jede Minute vergeben Nutzer 4 Millionen Likes. Mittlerweile wurden mehr als 250 Milliarden Fotos auf Facebook hochgeladen. Das entspricht 350 Millionen Fotos täglich. Das Veröffentlichungspotenzial von Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, TV- und Radiosendungen sowie Briefen nimmt sich dagegen extrem bescheiden aus. 1990 bestand der tägliche Kommunikationspool aus der Informationsvermittlung zwischen Arbeitskollegen, in der Familie, unter Bekannten, aus vielleicht 30 Minuten Zeitungslektüre und 15 Minuten Tagesschau, einem Film oder dem Lesen von ein paar Buchseiten. Weltgeschehen und Leben hatten sich damit erklärt. Ein besonderes Ereignis sorgte möglicherweise für Aufregung im Umfeld. Das war’s aber auch schon. Hat die heute hereingebrochene gigantische Informationsausbreitung in irgendeiner Weise zu einem Mehr an Verstehen geführt? Offensichtlich nicht. Es scheint eher das genaue Gegenteil einzutreten.
Der US-Präsident Donald Trump verkündet bei seiner Vereidigung „America first“. Seine Befürworter bejubeln den Slogan. Für seine Gegner bricht eine Schreckensära an. Spätestens seit 1945 dominieren die USA mit „Amerika zuerst“ die Welt. Eine andere Strategie gab es seither nicht. Amerika war der Motor der Globalisierung. Vor allem US-Unternehmen haben davon profitiert, aber auch europäische Konzerne. Es ging immer um Absatzmärkte, kostengünstige Lohnarbeit, sichere Rohstoffwege und die Verlagerung von umweltbelastenden Produktionen. In Asien wuchs indes ein wirtschaftliches Gegengewicht. Man könnte mit Goethe schlussfolgern: „Die ich rief, die Geister / werd ich nun nicht los.“ Die Trump Administration ist offenbar davon überzeugt, politisch eine wirtschaftliche Rückbesinnung für das eigene Land erzeugen zu können. Die USA, das am höchsten verschuldete Land auf dem Globus soll enorme Stärke ausstrahlen, noch bevor Wladimir Putin Russlands Einfluss ausbaut und sich China noch mehr Rohstoffareale in Afrika sichern kann. Die Signale aus Washington wurden jüngst mit Trumps Aufrüstungsbotschaften unterfüttert. Europa driftet indes auseinander und spielt dem amerikanischen Ansinnen bestens die Bälle zu. Nicht umsonst hat der neue Präsident den Brexit-Briten seine wohlwollende Aufwartung gemacht.
Doch was hat diese Entwicklung nun mit der täglichen Informationsflutung zu tun? Ganz einfach: Sie trägt auf wundersame Weise dazu bei, den Überblick zu verlieren. Der Zusammenhang ertrinkt in unübersichtlichen Partikularinteressen. Und dazu bedarf es nicht einmal einer so häufig vermuteten Verschwörerschar, die angeblich alles lenkt und beeinflusst. Das Chaos produzieren wir täglich mit gegenseitiger Aufregung in Netzwerken, Foren, Blogs etc. selbst. Was, wer, wann gesagt hat, wie man es einordnen, annehmen oder ablehnen sollte, erzeugt mehr Aufmerksamkeit als jedes reale Ereignis vor der Haustür. Vor 20 Jahren wurde sicher nicht weniger geredet als heute. Aber Sätze verhallten unter wenigen Ohren in begrenzten Räumen. Oft genug konnte man sich nicht genau erinnern, was wirklich gesagt wurde. Vieles blieb da, wo man es herausbrachte. Heute geht alles um die Welt oder zumindest gerät es unter die Augen von Tausenden. Alles bleibt festgehalten, in Schrift, Bildern und Videos. Außerdem wird kommentiert, seziert, interpretiert, verdreht, verharmlost, übertrieben und aufgeblasen. Tatsachen, Täuschungen, Lügen, Halbwissen, Banalitäten, Absonderlichkeiten, Dümmliches oder Kluges – alles steht und entsteht nebeneinander. Im Falle eines Shitstorms (Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets) werden sprichwörtlich Mücken zu Elefanten. Die Verwirrung übersteigt das Verständnis.
Manche sinnfreie Behauptung wird unter ihrer kritiklosen Verbreitung zur angenommenen Wahrheit. Millionenfach zeigt der menschliche Geist, wovon er überzeugt ist. Religionen konkurrieren mit Ideologien, politische Konzepte mit Theorien, egal ob wissenschaftlich bewiesen oder nicht, Esoterik zankt mit Medizin, Heilsversprechen mit Schicksalsschlägen. Hier und da kommen Fakten ans Licht. Manche sind erwiesen, andere verdreht oder glatt erfunden. Und dazwischen überlagern sich Tierbildchen, illusionsfördernde Spruchweisheiten, Kochrezepte, Entdeckungen, Polizeinachrichten, Selbstporträts, Werbung und Partystimmung. Bedeutsames und Banales verschmelzen zu einem geistigen Dunst. Mehr Informationsgerechtigkeit war nie, obwohl die Welt doch gemeinhin ungerechter werden würde.
Heute wird sichtbar, was einst Privatsache war. Die Gedanken sollen frei sein, jetzt sind es die gegenseitigen Behauptungen. Weil es ja stets jemanden gibt, der natürlich alles anders weiß, mangelt es nicht an Zurechtweisungen, Diffamierungen und daraus wird Ablehnung und am Ende Hass. Es ist ein geistiges Hauen und Stechen entstanden, welches das Potenzial in sich trägt, zur selbsterfüllenden Prophezeiung auszuarten.
Wie verarbeiten wir Informationen? Sie tauchen in unseren Wissens- und Erfahrungsschatz ein. Sie müssen auf einen Ankerplatz treffen, damit sie weitergedacht werden können. Wie Informationen letztlich bewertet und systematisiert werden, ist abhängig vom individuellen Wissensstand und dem persönlichen Kreativpotenzial. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass ein durchschnittlich gebildeter Sprecher des Deutschen auf etwa 4.000 bis 10.000 Wörter zurückgreifen kann. Im Alltag genügen oft 400 bis 800 Wörter, um sich adäquat verständigen zu können. Nehmen wir an, Begriffe bzw. Wortbedeutungen sind wesentliche Grundlage allen Verstehens und Einordnens von Informationen, dann darf man schlussfolgern, dass Menschen mit höherem Wortschatz statistisch mehr Denkvarianten verarbeiten. Möglicherweise sind sie in ihren Bewertungen differenzierter.
Anhand dieser kleinen Sprachargumentation wird deutlich, dass der menschliche Verstand an Verarbeitungsgrenzen stößt. Nimmt man außerdem eine hohe Informationsfrequenz an, muss vermutet werden, dass vertiefende Bewertungen nachlassen. Gereizt sein oder sich gestresst fühlen, sind symptomatische Anzeigen dafür. Mit einem selbstkritischen Blick gegenüber Phänomenen eigener übermäßiger Informationstaktverarbeitung tun wir uns schwer. Selbst unsere Ordnungsmöglichkeiten sind nicht ohne Grenzen. Deshalb können wir gar nicht ohne so genannte Schubladen und Vorurteile leben. Sie sind nichts anderes als Ausdruck unserer Denksystematik.
Ein weiterer bekannter Mechanismus unseres Bewertungssystems realisiert sich darin, dass wir uns durch Informationen in eigenen Überzeugungen bestätigt sehen wollen. Steht ein Inhalt im Gegensatz zu eigenen Erkenntnissen, entsteht meistens Ablehnung oder Ignoranz. Menschen mit einer höheren Tendenz für Sendungsbewusstsein initiieren häufig Überzeugungsversuche bei ihrem Gegenüber. Dank Kommentarfeldern auf Internetseiten wird davon rege Gebrauch gemacht, führt aber am Ende jedoch eher zur verbalen Konfrontation, aber weniger zum Informationsgewinn.
Bedenkt man, dass in der Hintergrundprogrammierung großer Plattformen wie Facebook oder auch bei der Suchmaschine Google Algorithmen arbeiten, die genau diesen Selbstverstärkungsmechanismus unseres Hirns ansprechen, kann man sich gut erklären, dass ein weiterführender Informationsgewinn nicht nur gedanklich, sondern auch technisch ausgeblendet wird. Bei Facebook stehen genau solche Veröffentlichungen im Vordergrund, die ohnehin eine hohe Relevanz – unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt – erlangt haben und außerdem werden vor allem solche Inhalte angezeigt, mit denen man sich im Vorfeld schon beschäftigt hatte. Auch die Antworten einer Googlesuche zeigen heute nicht mehr nur Werbung von Seiten, die man schon angesehen hatte, sondern auch die Ergebnisse sind gefiltert vom eigenen Suchverhalten. Facebook schätzt übrigens die Anzahl von sogenannten Fake-Profilen, bei denen ein und derselbe Nutzer zwei oder gar mehrere andere Profile unterhält auf bald 100 Millionen. Wie viel Wahrheitsgehalt kann man von so vielen Doppelgängern erwarten? Dann gibt es da noch automatisierte Programme, die völlig eigenständig auf ganz bestimmte Nachrichten eigene Nachrichten erzeugen und verbreiten. Wer sind all die Inhaltserzeuger neben Medien und Politik? Wer hat täglich die Zeit, Beiträge zu schreiben und zu kommentieren? Und mit welchem inhaltlichen Qualitätszuwachs darf man rechnen, wenn vorrangig weniger gebildete Menschen ohne Job nichts besseres zu tun haben, als der Welt zu erklären, wie man sie verstehen müsse?
Das Internet ist eben nicht nur Zugang zu Wissen und Information, sondern gleichermaßen wie eine übermäßige Fata Morgana oder eine Enzyklopädie für Stumpfsinn. Wer die Vorteile der Wissensverbreitung durchs Internet aufführt, muss auch dessen Nachteile an Komplexität und Banalität benennen. Als Folge einer unkritischen Informationsflutung entsteht verzerrte Wahrheit und unter Selbstverstärkungsprozessen kommt es zu einer Art Behauptungsverwirklichung. Politiker lassen sich heute schon durch das Potenzial virtueller Behauptungen in Entscheidungen treiben. Am Ende werden sie jedoch immer falsch entscheiden, weil es wiederum genügend Ansichtsgegner gibt. Vielleicht kommen sie unter diesem anhaltenden Trend eines Tages nicht mehr an Volksentscheiden vorbei. Wurden sie einst eher vor dem Fernsehapparat beschimpft, formiert sich im Internet zu jedem politischen Thema eine Gegnerschaft und macht Alarm. Wenn immer noch jemand glaubt, es würde sich nichts ändern, dann hat er wenig von den tatsächlichen Informationsveränderungen verstanden.
Vielleicht ist die ganze Aufregung über die Erregung im Internet auch nur eine zeitlich begrenzte Erscheinung, weil Leute wie der Autor die Entwicklung noch aus der Erfahrung von Vorinternetzeiten bewerten. Wenn Generationen eines Tages gar nichts anderes mehr kennen, könnte sich gegenwärtiges Geschehen relativiert haben. Ob jedoch Erkenntnisse gegenüber wirklich bedeutsamen Weltbewegungen unter einem zunehmenden Potenzial an Informationsverwirrung höher werden würde, daran darf man zweifeln.Thomas Wischnewski

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