Ein Protest mit Folgen

Französische Nationalpolizei, die am 18. Mai während der Unruhen auf den Straßen von Reims interveniert. Foto: Jose Marie Hernandez

Am 17. Oktober 2019 gab es im französischen Fernsehen eine Interviewstunde mit dem Innenminister Frankreichs Chris-tophe Castaner. Zwei Journalisten stellten ihm Fragen zu der Politik, die er zu vertreten hat. Entsprechend unseren deutschen Medien könnte man den Eindruck haben, als habe sich die sonst häufig angespannte Lage in Frankreich in der letzten Zeit etwas beruhigt. Wenn da nicht die Messerattacke eines Polizisten gegen seine Kollegen am 3. Oktober 2019 in der Polizeipräfektur von Paris gewesen wäre. Vier Polizisten – eine Frau, drei Männer – hatte der Täter, ein 45-jähriger Mitarbeiter der Informatikabteilung der Polizeieinrichtung, getötet. Durch Taubheit war er behindert, ansonsten aber in keiner Weise auffällig, nie gewalttätig gewesen. Er stammte von der Karibikinsel Martinique, war seit 2003 als Zivilangestellter im Polizeidienst tätig und seit 2014 verheiratet. Seine Frau kann ebenfalls schlecht hören. Eine besondere Anhänglichkeit zum Islam konnte dem Paar nicht nachgesagt werden.

Erschreckend die Zahlen, die bei dem zu Anfang erwähnten Interview mit Innenminister Castaner genannt wurden. Bis zum 17. Oktober hatten in Frankreich 54 Polizisten Selbstmord begangen, bei den Protestdemonstrationen der Gelbwesten waren insgesamt 12 Menschen ums Leben gekommen, 5 Hände waren durch Tränengasgranaten abgerissen worden.

Selbstmorde unter französischen Polizisten

Es wäre falsch, eine Verbindung zwischen den Protesten der Gelbwesten und der hohen Selbstmordrate bei den Ordnungskräften herzustellen. Die Protestbewegung begann erst im November 2018, doch bereits in dem Jahr hatten 35 Polizisten und 33 Gendarmen Suizid verübt. Eine Hochzahl gab es schon im Jahre 1996: 70 Selbstmorde bei den Flics. Inzwischen beschäftigen sich auch die Führungskräfte der Polizeiorgane mit diesen besorgniserregenden Ereignissen. Es wird unter anderem angegeben, dass die quasi freie Verfügung über ihre Schusswaffe es erleichtere, diese Waffe gegen sich selbst zu richten. Tatsächlich ist dies auch bei rund 60 Prozent der Selbstmorde der Fall. Andere Ursachen sind sicherlich der Stress, die unregelmäßige Arbeitszeit, Probleme in der Hierarchie, das Alleinsein mit Problemen und deren unzureichende Bewältigung (im Polizeidienst gibt es 90 Psychologen), Erschöpfung im Dienst, auch das Gefühl, das schmutzige Geschäft für die Politiker zu erledigen. Kritisiert wird auch, dass Führungsposten an Absolventen von Polizeischulen vergeben werden, ohne dass die Neuernannten praktische Erfahrungen im Dienst gemacht haben. Angesammelt hat sich eine große Zahl von Überstunden: insgesamt rund 21 Millionen Überstunden bei rund 150.000 Polizisten und 100.000 Gendarmen, und da geschieht auch nur eine zögernde Bezahlung, was den Frust, keine ausreichende Wertschätzung durch die Administration zu erfahren, noch erhöht.

Das Ansehen der Polizei unter der Bevölkerung scheint überhaupt gering zu sein. Beschimpfungen sind auf der Tagesordnung. Das ist auch angesichts solcher und ähnlicher Fälle wie nachstehend verständlich (die Fälle sind in einem über 600 Seiten starken Jahresbericht des Innenministeriums über unkorrektes Vorgehen der Polizeibehörden dokumentiert). Da wird in einem Park ein Mann durch städtische Parkwächter aufgefordert, seinen Hund an die Leine zu nehmen. Er tritt in einen Streit mit den Parkwächtern ein, weigert sich, schimpft. Die Parkwächter, die keine Polizeigewalt haben, rufen die Polizei. Es erscheinen darauf zwei Polizisten zu Pferde (!), und die berittenen Polizisten nehmen den Mann in "garde-à-vue", also in eine Festnahme zur Feststellung seiner Personalien. Erst am anderen Morgen wird der Mann aus dem Gewahrsam entlassen.

Eine andere Sache: Drei Jugendliche hüpfen auf den Polstern eines am Straßenrand stehenden alten Pkws herum. Zwei Polizisten fahren im Streifenwagen vorbei und halten an. Zwei der jungen Bengel können flüchten, ein zwölfjähriger wird geschnappt und mit Handschellen an einem Zaun festgekettet. Die Bewohner an der Straße beschimpfen die übereifrigen Polizisten, die später in ihrer Rechtfertigung  vom Diebstahl des Pkw ausgingen. Der Großvater des 12-jährigen, ein ansonsten unbescholtener Bürger, grämt sich so sehr, dass er ein halbes Jahr später stirbt.

Überbeanspruchung der Polizeikräfte, Einsätze bei Attentaten, Begleitung von Sportveranstaltungen mit gewalttätigen Auseinandersetzungen – all das wird als Grund für die Häufung der bisher statistisch alle fünf Tage vorkommenden Selbstmorde von Polizeibeamten angegeben. Die Gesamtzahl der Selbstmorde in Frankreich liegt jährlich bei rund 10.000.

Wenn man sich die Bilder ansieht, die mit der Protestbewegung der Gelbwesen verbunden sind, dann kann man natürlich den Frust der Polizei zumindest verstehen. Am Sonnabend, dem 24. November 2018, glaubte man, auf den Champs-Élysées in Paris seien Kampfhandlungen zwischen verfeindeten Armeen im Gange. Rauchwolken von Tränengas zogen durch die Straße, Schaufenster waren zertrümmert, ständig war der Lärm von Detonationen zu hören. Das Innenministerium gibt die Zahl der Protestierer mit 8.000 in Paris an, in ganz Frankreich mit 103.000. Eine Woche vorher, am 17. November 2018, dem ersten Tag der Demonstrationen, waren nach Angaben der Organisation „Policiers en colère“ (Polizisten im Zorn) 1,3 Millionen Menschen im Protest. Dabei gibt es bei den Gelbwesten keine festen Strukturen, keine Hierarchie, es lässt sich kein Vorsitzender oder leitender Organisator feststellen. Ihre Forderungen sind Änderung der Steuerpolitik, Verbesserung des Lebensniveaus der Volksmassen und der Rücktritt von Präsident Emmanuel Macron. Zu ihren Protesten mit den gut sichtbaren gelben Warnwesten versammeln sie sich an Straßenkreuzungen, vorwiegend an Kreisverkehren, um möglichst viele Straßen abzusperren. Dabei kam es bereits am 17. November 2018, dem ersten Tag der Proteste, im Departement Savoie zu einem tödlichen Zwischenfall. Eine Autofahrerin, die ihr Kind zu einem Zahnarzt fahren wollte, wurde an einem Kreisverkehr gestoppt und sollte nicht weiterfahren. Die Protestierer klopften auf das Dach des Fahrzeuges. Die Mutter des Kindes verlor die Nerven und begann loszufahren. Dabei überrollte ihr Fahrzeug eine 50-jährige Gelbwesten-Frau, die trotz des vor Ort in Bereitschaft stehenden Krankenfahrzeugs mit Besatzung sofort verstarb. Insgesamt sind bisher, nach fast einem Jahr der Protestbewegung, zwölf Tote zu beklagen.

Eine Vorliebe für den Einsatz von Tränengasgranaten

Genauso traurig ist das Schicksal einer Frau, die bereits im Operationstrakt eines Krankenhauses bei Marseille lag und dort starb. Sie hatte überhaupt nichts mit den Gelbwesten zu tun, sondern wurde, als sie dabei war, in ihrem Haus die Fensterläden zu schließen, zufällig von einer Tränengasgranate der Polizei im Gesicht getroffen.

Überhaupt Tränengasgranaten. In Frankreich scheinen die Herrschenden eine Vorliebe für den Einsatz dieses Instruments zu haben. Bereits kurz nach 1840, im Krieg zur Eroberung Algeriens, wurden Taktiken zur „Ausräucherung“ der widerstehenden algerischen Kämpfer eingesetzt. Zur Jetztzeit gilt besonders die Tränengasgranate CM3 als berüchtigt. Sie kann Hautverletzungen, Verletzungen der Hornhaut des Auges, Verletzungen im Gesicht u. ä. hervorrufen. Nicht weniger gefährlich sind die GLI-34 MP7 oder GLI-F4. Die Granaten können mit der Hand geworfen werden, wobei auch Polizeibeamte selbst Verletzungen erlitten haben (die Sicherheitskräfte verzeichnen hier 16 Verletzte und über 200 Quetschungen), oder sie werden mit speziellen Werfern, sogenannten Cougar, abgeschossen. Außer der Freisetzung der Tränen hervorrufenden Gase bewirken die Granaten einen Höllenlärm, der unter ungünstigen Bedingungen mehrfach zum Platzen des Trommelfells bei Beteiligten geführt hat. Bei der Räumung eines durch Demonstranten besetzten Flugplatzes (ZAD de Notre-Dame des Landes, im Jahr 2012) waren 11.000 Tränengasgranaten eingesetzt, 270 Protestierer wurden verletzt, vier Gendarmen schwer durch ihre eigene Granate. Am Sonnabend, dem 2. Dezember 2018, kamen in Paris im Kampf gegen die Gelbwesten rund 10.000 Granaten zum Einsatz, die Kosten allein dafür  werden auf mindes-tens 200.000 Euro geschätzt.

Den Gelbwesten schlossen sich auch Landwirte an, denn sie wurden durch die Steuererhöhungen auf Kraftstoffe besonders hart getroffen. Dabei wenden sie ihre „betriebseigenen“ Methoden an. In der Video-Berichterstattung war es zu sehen: Eine Straße, ein großes mehrgeschossiges Gebäude; von rechts nähert sich ein Traktor, hinter sich auf einem Anhänger eine Zisterne. Als die Zisterne in Höhe des beschriebenen Gebäudes ist, steigt ein armdicker Strahl von grauschwarzer Flüssigkeit nach oben und bestreicht die Gebäudefassade, dabei mehrmals ein zufällig offenstehendes Fenster. Die Flüssigkeit ist ganz offensichtlich Jauche. Von einer ähnlichen Aktion wird bezüglich eines Präfekturgebäudes in der Provinz berichtet. Die untere Etage und die Kellerräume wurden geflutet, Aktenschränke, Computer usw. wurden dadurch unbrauchbar gemacht. Schadenshöhe rund 300.000 Euro.

Tote Tiere, Mist und Exkremente von Tieren  („cacatov“) werden auf Beamte und Dienstgebäude geworfen. Als auch mit Farbe beschmierte Kleintiere, wie z. B. Nutrias, lebend auf das Gelände von Verwaltungsgebäuden gebracht wurden, protestierte die Stiftung Brigitte Bardot gegen solche Handlungen und kündigte Gerichtsklagen an.

Emmanuel Macron machte seinem Ärger über Twitter Luft: „Danke unseren Ordnungskräften für ihren Mut und ihr professionelles Handeln. Schande denen, die angreifen. Schande denen, die anderen Bürgern und Journalisten Gewalt antun, sie einschüchtern wollen. Kein Platz für diese Gewalttätigkeiten in der Republik.“ Dieter Mengwasser

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