Die ungerechte Gerechtigkeit

Die Welt ist ungerecht und das Leben sowieso. Wir entwickeln Vorstellungen über Gerechtigkeit, fordern eine solche überall ein und vergessen häufig, dass ohne Abstand oder irgendeine Ungerechtigkeit wohl jede Entwicklung zum Stillstand käme.

Jedes Jahr um Weihnachten herum haben Berichte über herzliche Hilfe für Schwache Hochkonjunktur. Als seien Armut oder andere menschliche Krisen eine saisonale Erscheinung. Kaum ist dann der Januar angebrochen, liest, hört und sieht man über die Prognosen des bevorstehenden Jahres. Ist das gerecht? Ereignisse steuern Medien, das Wetter möglicherweise oder eben die Besonderheiten einer Jahreszeit. Manchmal möchte man fast selbst daran glauben, dass sich das Leben nach einem vorgegebenen Takt abspielt. Doch Ablauf, Einschnitte und Ausschläge des Seins sind nicht so vorgegeben, wie das irgendwelche Darstellungen versprechen. Und natürlich ist es wichtig, dass Missstände benannt werden, dass Mangel und Not Fürsprecher finden und Mittel und Möglichkeiten zur Unterstützung auf den Weg gebracht werden. Doch die Benennungsvarianten ungerechter Situationen und Verhältnisse sind derart vielfältig und unübersichtlich geworden, dass schier unmöglich erscheint, allem irgendwie gerecht werden zu wollen.

Die sich öffnende Schere zwischen Armut und Reichtum bleibt eine der präsentesten Forderungen für die Herstellung gerechter Verhältnisse. Doch welchen Betrachterstandpunkt nehmen wir dafür ein? Einen nationalen oder einen internationalen? Und reicht so eine Perspektive, um dem Phänomen Gerechtigkeit wirklich näher zu kommen? Urlaub ist für deutsche Lebensverhältnisse zu einem garantierten Grundbedürfnis geworden. Millionen Deutsche machen sich jährlich auf den Weg, um die Welt zu erkunden. Sie bereisen andere Länder und Städte mit herausragenden Sehenswürdigkeiten. Allerdings sind diese touristischen Ziele, Paläs-te, Pyramiden, Museen mit ihren historischen Schätzen in der Regel erhaltene Symbole aus ungerechten vergangenen Zeiten. Der Genuss kultur-tourischer Ausflüge fußt also auf der Faszination solcher Besonderheiten, die vorrangig in ungerechten Verhältnisse entstanden sind. Ist es gerecht, möchte man fragen, wenn 2017 geschätzt weltweit fast 70 Millionen Menschen auf der Flucht waren, Tausende im Mittelmehr ertranken und im selben Jahr gleichzeitig fast 26 Millionen Reisende eine Kreuzfahrt auf einem der Luxusdampfer unternahmen? Gerecht erscheint das nicht. Doch würde ein Verbot für Kreuzfahren tatsächlich Menschen helfen, die auf der Flucht sind, außer im Fall, man setzte die Schiffe zum Übersetzen im Mittelmehr ein. Und würden Aufnahme und Integration von Millionen Menschen in Europa nicht gleichzeitig die Angleichung ihrer Wünsche und Bedürfnisse an europäische Standards fördern? Damit einhergehend, erhöhten sich unweigerlich Ressourcenverbrauch und Energieeinsatz. Gerade solche Aspekte würden befördert, die wir unter heutigen Umweltschutzwerten zurückdrängen wollten.

Natur, Lebensraum, Wasser, Luft, Tier- und Pflanzenwelt sind Lebensgrundlagen, die sich nicht an Gerechtigkeitsmaßstäben messen lassen. Überhaupt haben sich Einklang von Mensch und natürlichem Lebensraum verschoben. Mehr Indiviuduen beanspruchen mehr Ressourcen. Das könnte schon jedes Kind wissen, wenn es von einem Berg an Spielzeugen träumt.

Apropos Kinder – wenn der Nachwuchs die Schule verlässt, um sich eine eigene Existenz aufzubauen, verfügen die meisten noch über kein großes Vermögen, auch wenn Eltern den Weg finanziell unterstützen. Gegenüber der Elterngeneration besteht also eine Wertdifferenz. Jeder versucht, mit seinen Möglichkeiten unter den gegebenen Bedingungen etwas aufzubauen. Das ist der Lauf der Dinge. Noch nie hat sich jemand darüber beschwert, dass man als junger Mensch vermögenslos ins Leben startet, um sich etwas aufzubauen. Das Erbrecht kann als ungerecht betrachtet werden, wenn riesige Besitztümer von den Eltern auf die Kinder übergehen, ohne dass sie dafür eine angemessene Leistung hätten erbringen müssen. Die Aristrokratie der Moderne ist ein Geldadel aus Milliardären. Doch steht das Erbrecht deshalb als ungerechtes Konstrukt am Pranger? Wer wollte, dass die gesamten Früchte des eigenen Lebens nicht an die Nachfahren übertragen werden dürften?

Das Recht soll ein Garant dafür sein, dass für jeden gleiche Regeln gelten. Das ist eine Grundlage unseres Gerechtigkeitsverständnisses. Aber auf denselben Regeln wachsen ungleiche Ergebnisse. Manche lernen schneller als andere. Dann gibt es welche, die leistungsfähiger sind – psychisch oder physisch – und in kürzerer Zeit mehr schaffen. Noch jeder Sportler schindet sich deshalb im Training, um eines Tages möglichst ganz oben auf dem Siegertreppchen zu stehen. Wie leiden Verlierer und ihren Niederlagen? Niemand beklagt da Ungerechtigkeiten. Lottomillionäre gibt es nur, weil es andererseits viele Millionen Verlierer gibt. Beklagt da jemand ungerechte Verhältnisse? Ganz im Gegenteil, je höher der Jackpot, umso mehr fühlen sich zum Mitspielen animiert und finanzieren doch nur nach der Unwahrscheinlichkeit von 1:139.838.160 irgendjemanden. Allein der Glaube daran, von Geld überschüttet werden zu können, reicht aus, um ein Leben lang in Gewinnspiele zu investieren. Wenn Sie Lottospieler sind, habe Sie je addiert, wie viel Geld Sie im Dauerspiel gelassen haben? Rechnen Sie jetzt zur Rechtfertigung bitte nicht die eingeheimsten Kleingewinne auf! Lotto ist ein ungerechtes Spiel. Niemand stört sich daran, weil das Glück ein unvorhersehbarer Zufall ist.

So ist es auch mit den eigenen Genen. Welche sich wie vermischen und sich durchsetzen, gleicht einem Glücksfall. In manchem Talent sind einige bevorteilt und andere haben das Nachsehen. Die Natur verteilt höchst ungerecht. Doch in unserer Vorstellung möchten wir gern möglichst Gerechtigkeit unter Menschen erzeugen. Das ist ein wunderschönes Vorhaben. Nur wird unter jeder Forderung nach Gerechtigkeit stets vergessen, dass erst ein Unterschied bzw. eine Differenz vorhandein sein muss, damit man sich für Gerechtigkeit einsetzen kann. Allein die Tatsache, dass immer wieder irgendwer am Anfang eines Weges steht oder dass etwas beginnt, ist ein Beleg dafür, dass alles Entwicklung ist und Gerechtigkeit kein fest definierbares Gut sein kann.

Allerdings scheint sich in unserer Gesellschaft mehr und mehr die Auffassung durchzusetzen, dass Gerechtigkeit vergleichbar mit einem historischen Prozess sei und dass sich unter einem solchen quasi gerechte Verhältnisse wie technischer Fortschritt messen lassen könnte. Es gibt jedoch diesbezüglich keine lineare Genese. In manchem geisteswissenschaftlichen Bereich oder auch in der politischen Hemisphäre wird jedoch der Eindruck vermittelt, als könne Gerechtigkeit im Verlauf gesellschaftlicher Entwicklungen immer besser garantiert werden. Solche Überzeugungen dürfen wohl als sehr fraglich gelten.

Versuchen Sie sich im Gedankenexperiment vorzustellen, alle Individuen würden entsprechend den Vorgaben einer geschlechtergerechten Sprache reden und schreiben. Glaubten Sie wirklich, dass es deshalb keine ungerechten Verhaltensweisen, keine Macht- oder Besitzgefälle, kein besser oder schlechter in Leistung und Fähigkeiten gäbe? Eine Grundannahme der Genderforschung fußt darauf, dass alle Kommunikation, jeder Unterschied zwischen Menschen und unterschiedlichen Geschlechtern in Machtfragen ausdrückt. Nun begegnet man dieser Analyse mit genau denselben Mitteln, nämlich mit machtvoll politischem Druck zur Herstellung von mehr Gerechtigkeit. Als ließe sich dieses hohe Gut tatsächlich ausschließlich an Worten und nicht im konkreten Verhalten von Menschen erzeugen. Letzteres ist derart indiviudell, situativ und variabel, dass jeder Ausgleich untereinander bzw. eine gerechte Sicht auf eine entsprechende Situation neu erzeugt werden muss. Und zwar immer unabhängig davon, ob jemand bestimmte Sprachregeln aufgesetzt hat. Egal welche gerechten Bedingungen wir auch erzeugen könnten, unsere geistige Bewertungsvariabilität steht einem Festschreiben solcher Grundlagen im Wege. Der menschliche Verstand würde trotz einer Idealvorstellung einer erzeugbaren absoluten Gleichheit doch neue Unterschiede entdecken. Jeder neu geschaffene Begriff – und mag er noch so politisch gerecht definiert sein – ist im Wesenskern eine Abgrenzung von etwas anderem. Man könnte sagen, dass Gerechtigkeit einerseits ein Ergebnis von Ungerechtigkeit ist und anderseits gleichzeitig Ausgangspunkt für die Entstehung neuer Ungerechtigkeiten.

Gerechtigkeit – egal auf welchem Gebiet – untereinander erzeugen zu wollen, kann ergo nur als endlose Bewegung oder als eine fortwährend anzunehmende Herausforderung angesehen werden. So wie jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten das eigene Leben gestaltet oder ins Leben anderer hineinwirkt und mit dem Ende des Daseins aus der Mitwirkung gestaltender Indiviuden wieder ausscheidet, bleibt wie alles in der Natur prozesshaft mit sich verändernden Bedingungen. Heute bekommt man häufig den Eindruck, dass dies auf politischen und Verwaltungsebenen ins Hintertreffen geraten ist. Anders lassen sich zunehmende Ungerechtigkeiten in Vermögensverhältnissen von Bürgern schwer erklären. Indes wird Gerechtigkeit in Bereichen postuliert, in denen sie außer in groben Rechtsgrundlagen – die aber stets wieder auf den Prüfstand müssen – oder Moralvorstellungen nicht erzeugbar sind. Es gibt sogar Leute, die von gerechten Kriegen sprechen. Das kann wohl nur als Verstandesverirrung begriffen werden. Aber ohne Einzigartiges zum Anschauen, ohne Vorbilder fürs Nacheifern, ohne Zielsetzungen würde sich niemand auf den Weg machen wollen. Leider ist Leben ohne ungerechte Zustände nicht denkbar und nichts würde sich bewegen. Thomas Wischnewski

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