Die Schatten der Systeme

Höher, schneller, weiter und vor allem besser sollte alles werden. Wir verlassen uns immer öfter auf technische Systeme oder auf Funktionsweisen großer wirtschaftlicher Gebilde und schauen vielleicht zu selten auf die negativen Seiten dieser Entwicklung. Das hat offenbar mit unserer geistigen Natur zu tun. Ein kritischer Blick auf die menschliche Einbildungskraft.

Am 6. Dezember vergangenen Jahres gab es in Magdeburg einen Stromausfall, bei dem über mehrere Stunden die meisten Ampeln in der Innenstadt ausgefallen waren. An den Kreuzungen bilden sich lange Staus. Diese Folge erscheint logisch. Es offenbarte sich jedoch eine weitere Erscheinung. Manche Pkw-Fahrer zeigten enorme Unsicherheiten bei den Vorfahrtsregelungen. Zum Beispiel trauten sie sich trotz freier Gegenfahrbahn nicht abzubiegen und brachten ihre Autos erst durch rücksichtsvolle Verkehrsteilnehmer über den Kreuzungsbereich. Man könnte aus dem unsicheren Verhalten schließen, dass das selbstverständliche, automatische Einlassen auf eine fortwährende technische Regelung der Verkehrsflüsse die Fähigkeiten für eigenständige Entscheidungsprozesse vermindert hat.

Dass unser Hirn unter ständigen Verhaltenswiederholungen Automatismen – sogenannte dynamische Stereotypen – entwickelt, ist bekannt. Die eigene Handschrift ist so ein Phänomen oder das perfekte Spielen eines Musikinstrumentes. Der Lernprozess greift generell in allen Lebensbereichen. Was wir wann, wo und wie wahrnehmen, auf welche Weise wir Bedeutungen selektieren – alles automatisiert sich unter unbewussten Lernprozessen unseres Zentralnervensystems. So darf es nicht weiter verwundern, wenn sich mit weiterhin einziehenden technischen Hilfsmitteln manche bisher selbstverständlich geglaubte Fähigkeit im Alltag allmählich vermindert bzw. nach langer Zeit sogar auflöst. Natürlich bringen viele Neuerungen mit digitaler Steuerung Vorteile. Nur werden häufig die Nachteile sys-temsicher Abhängigkeiten ausgeblendet.

Die schöne weite Onlinewelt erweckt vordergründig den Eindruck, als wäre jede Information, jedes Wissen und Geschehen ständig und überall verfügbar. Man kann aber beispielsweise nicht einfach nach Begriffen oder Geschehnissen googeln, von denen man gar nichts weiß. Ob man ihnen per Zufall begegnet, bleibt dem Zufall überlassen oder gar einem Algorithmus, der vieleicht vorgibt, was man vorrangig finden sollte. Schon jetzt erfahren wir zusehens, welche destruktiven Entwicklungen das Sys-tem einer fortschreitenden Vernetzung – bei allen unbestrittenen Vorteilen – mit sich bringt. Ab einem bestimmten Potenzial bringt jedes System unbeherrschbare Schattenseiten hervor und stets wird es einen Punkt geben, an dem negative Folgen für eine Mehrheit involvierter Teilnehmer überwiegen. Die Vorstellung über ein unbegrenztes Höher, Schneller, Weiter oder Besser gehört oft in den Bereich der Illusionen.

Die Globalisierung, unter der man einen weltweiten Rohstoff-, Waren- und Dienstleistungsfluss versteht sowie überall hin transportierbare Produktionskapazitäten und Knowhow-Transfers, hat zweifelsfrei in weiten Teilen der Erde für wirtschaftlichen Aufschwung und Teilhabe an Wohlstand erzeugt. Trotzdem darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erde über endlose Ressourcen verfügt. Denkt man das Anwachsen der Weltbevölkerung weiter – gerade weil die Versorgungssicherheit ansteigt und damit einhergehend eine Annäherung aller Nationen an die Warenüberversorgungstendenz reicher Indus-trieländer verbunden sein soll – kann ein fortwährendes Wachstum nicht generell zu einem Besser führen. Die Logik der Wirtschafts- und Finanzakteure will aber keinen anderen Weg kennen. Über die Schattenseiten dieses Wirtschaftens wird weltweit viel diskutiert, ein Ausweg ist nicht wirklich in Sicht. Die Wirkweisen des Kaptialismus würden den Motor am Laufen halten. Das ist aber nur eine Seite der Medaille.

Die Verheißungen des Fortschritts münden heute vielfach in den Begriff der Digitalisierung. Permanent steigende Rechen- und Vernetzungskapazitäten, Automatisierung und künstliche Intelligenz sollen uns weiter von Lebensmisslichkeiten, Anstrengungen und Stress befreien. Oft fehlt es den wundervollen Prophezeiungen am Aufzeigen der unweigerlichen Schattenseiten. Ein Beispiel, das heute bereits jeder Onlinenutzer nachvollziehen kann, sollte die Proklamation über eine Befreiung von Stress sein. Je mehr man sich auf Onlineangebote einlässt, umso höher wir die Ereignis- und Informationsdichte innerhalb eines Tages. Dass darunter eine Entschleunigung möglich sein sollte, darf man getrost ins Reich der Märchen setzen. Insbesondere der weitere Einzug Künstlicher Intelligenz würde uns künftig von nervigen Erledigungen entlasten. Sicherlich wird es solche positiven Erscheinungen geben. Aber eben auch die anderen. Jeder Ingenieur weiß bei der Berechnung einwirkender Kräfte, dass ab einem bestimmten Punkt an Komplexität die Sicherheit einer Konstruktion nicht mehr gewährleistet werden kann. In Sphäre der Daten wird dies vielfach ausgeblendet. Man denkt einfach linear oder gar exponentiell an die Erweiterung von Rechenleistung und glaubt, damit würde sich schon alles regeln lassen. Dass aber an einem Ende einer Leitung menschliche Nutzer sitzen, deren Spontanität, Kreativität bishin zur kriminellen Energie nicht einfach in Programme einpassbar sind, wird selten öffentlich eingestanden. Schließt man in die Überlegung ein, dass mit jedem zusätzlichen Erdenbürger und zusätzlich angeschlossenen Nutzer ein neuer unberechenbarer Faktor dazukommt – es kommen jedoch täglich Tausende dazu, sollte die Beherrschbarkeit virtueller Welten eher an eine Art Größenwahn erinnern. Tatsache ist auch, dass mit jedem Anwachsen an technischer Komplexität weitere Risiken für Schwachstellen und Störungen dazukommen. Dass menschliche Kontrolle unter der rasanten Dynamik allumfänglich möglich sei, dürfte auch als eine schöne Fantasie gelten. Man sollte sich indes viel besser mit den Gefahren von Kontrollverlusten und dem Schwinden von Fähigkeiten beschäftigen. Vor allem unter dem Aspekt, dass unter einem grenzenlosen Vertrauen auf automatisierte technische Lösungen – wie beim Magdeburger Ampelausfall-Beispiel angedeutet – sich eben Entscheidungsfähigkeiten reduzieren.

Es mag aber eine Ursache geben, warum wir als Menschen einerseits aus einer Vorstellung von „immer Besser“ nicht herausfinden und andererseits einen angemessenen Weg ohne schmerzhafte Verluste oder Zerstörungsfolgen nicht einschlagen können. Einen der wichtigsten Gründe finden wir in der Dynamik unseres Geistes. Blicken wir nur selbstkritisch auf dessen Illusionierungsvermögen, sollte uns manchmal eher ein kritisches Signallicht aufgehen als bewundernswerter Zauber. Der Geist bringt nämlich nicht nur wundervolle technische Errungenschaften hervor, er kann sich in die unwahrscheinlichsten Bereiche denken, in denen selbst gar kein menschliches Denken möglich ist. Im Hirn entsteht die Sehnsucht, sich über das eigene Leben hinausdenken zu können, den Geist in welche Sphäre auch immer zu transformieren und ihn damit außerhalb aller Natursysteme, unter denen er sich evolutionär herausbildete, herauszulösen. Die Möglichkeit des Weiterlebens über den Tod hinaus oder die Suche nach ewigem Sein ist ein Indiz für die Schwierigkeit, dass sich der Geist selbst Grenzen setzen könnte. Auf diese Weise agieren wir auch in wirtschaftlichen, finanziellen, globalisierenden und idealisierenden Zielen. Unter dem Eingeständnis von Grenzen würden wir gleichsam Zukunftsvorstellungen aufgeben müssen.

Deshalb glauben wir auch zu gern an das Wunder heilender Systeme, die nur groß genug sein müssten, um am Ende für ein Paradies auf Erden zu sorgen. Die aktuell zunehmende Konfrontationsspirale unter zahlreichen Nationen ist leider kein Anzeichen für die Entwicklung hin zu einer besseren Welt. Welche kontraproduktiven Folgen „imperiale“ Supermächte mit ungebändigtem Streben nach Einfluss in zahlreichen Regionen der Erde erzeugen, kann man wohl kaum mit der rosa-roten Brille betrachten. Nichtsdestotrotz streben weitere Nationen nach wachsendem Einfluss und versuchen das eigene nationale System über militärischen, wirtschaftlichen, finanziellen und schließlich über politischen Druck zu vergrößern.

Das globale Finanzsystem kann als längst aus jedem Ruder geratenes menschliches Konstrukt gelten. So wunderbar den Gründungsinitiatoren ein friedliches und gemeinsames Europa in den Köpfen vorschwebte, so kritiklos waren sie gegenüber der Unbeweglichkeit eines fortwährend gewachsenen zentralen Verwaltungsmollochs in Brüssel. Dessen Steuerungsfähigkeit kann heute kaum lokal gedacht, geschweige denn geändert werden. Die EU – so viele Vorteile sie auf der einen Seite bietet – wirft mit ihrem überbordeten eurokratischen System Schatten auf das kleine Bürgersein vor Ort. Europa wurde euphorisch in eine blühende Zukunft gedacht und die destruktiven Elemente eines sich verfestigenden und verselbstständigenden Systems nicht benannt. Leider wiederholen wir solche Fehler und bekennen zu selten die Grenzen unserer systemischen Vorstellungen. Thomas Wischnewski

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