Die Ohnmacht vor der Allmacht kurzer Sätze

Noch einmal bäumen sich die Wahlkämpfer auf, um die Bürgerstimme im letzten Winkel einzusammeln. Die Losungsflut geht in die finale Phase. Oft klingt das nicht schön. Aber ginge es anders?
In Wahlkampfzeiten fliegen den Wählern allerorts kurze Sätze oder gar nur Losungen um die Ohren. So ist das eben. Obschon Politiker andererseits stets darauf pochen, dass Politik eine Chimäre sei, ein komplexes Mischwesen, das man nicht auf einfache Aussagen reduzieren könnte, vor allem nicht auf populistische. Doch vor dem Urnengang inte ressiert das Geschwätz von gestern wenig. Da populisiert es von Plakaten, in Wahlspots und TV-Talkrunden. Schließlich muss Populus, das Volk, mit den Ideen über das künftige deutsche Leben gefüttert werden. Und im Konsenz ruft die große Schar der Wahlfrontfrauen und -männer, dass alles Schlechte im Gestern bliebe und das Gute sich nun Bahn breche. Dafür brauche es nur die Stimme, die eine von jedem und am besten nur für eine Partei. Wenigstens im Wetteifer der sprachlichen Verknappungen sind die politischen Akteure allesamt auf Augenhöhe. Die Wähler wissen das. Manche quittieren das verbale Wahlkampfgeschnetzelte mit Kopfschütteln oder gar mit Abwinken. Andere haben verstanden, nicken zustimmend oder geben sich begeistert.
Und immer spricht man gegenseitig gern vom polititschen Gegner, über dessen Programmatik schon der Untergang aufginge und wer der andere sei und wie man ihn zu begreifen habe. Die Rhetorik der Abgrenzung, Einordnung und Kategorisierung ist dann scharf, manchmal sogar vernichtend. Als ginge es bei einer Wahl um so etwas wie die Olympischen Spiele, bei denen unter den Aktiven alle vier Jahre in unterschiedlichen Sportarten wie Renten-Marathon, Sozial-Hürdenlauf und Lohn-Rudern die Besten ihrer Disziplin ermittelt würden. Ab und an gibt es dann noch ein paar Sympathiepunkte als Haltungsnoten, die ein Wahlzünglein bei der Urteilsfindung sind. Ein Unsympath hat keine Freunde, jedenfalls nur solche seinesgleichen.
Der Dauerbeschuss mit Kernbotschaften auf den Souverän wird schon seine Wirkung zeigen. Daran muss man in Parteizentralen glauben, sonst wäre Wahlkampf keine Werbeveranstaltung. Aber genau
das ist sie und das nicht erst seit gestern. Während der Legislatur soll der Bürger mitdenken, insbesondere nie einfach. Wenn er aber einmal alle vier Jahre eine Stimme hat, dann darf er schlicht denken. Millionen Gesetzestextseiten verdichten sich auf ein schlichtes Kreuz auf dem Stimmzettel. Genau genommen sind es ja zwei, weil da noch die Sympathiezustimmung für die Direktkandidaten gezeichnet werden darf. Natürlich kann man diesen ganzen Wahlaufruhr zerreißen. Nichts anderes war bis hierhin aufgeschrieben. Man kann aber auch darüber nachdenken, was das Prozedere mit uns selbst zu tun hat. Wie viele Parteiprogramme haben Sie tatsächlich durchgelesen und wie viele Positionspapiere, die den Programmen vorangingen? Niemand müsste sich das verbale Hauen und Stechen antun, wenn Interesse, Zeit und Mühe groß genug wären. Doch wer einer geregelten Arbeit nachgeht, Verantwortung für Kinder oder andere übernimmt und die Pflicht des Alltags meistert, wird nicht über ausreichend Beschäftigungspotenzial für vertiefende Politikstudien verfügen. Und außerdem ist das Leben schöner, als sich wochenlang mit der Abstraktion von ideologischen oder juristischen Verallgemeinerungen abzugeben.
Also hört und liest man, was andere darüber zusammenfassen, interpretieren und färben bzw. was Politiker selbst an Äußerungsbrocken bei kurzen TV-Auftritten ausspeien. Letztlich müssen wir wohl bekennen, dass wir eigentlich selbst nicht besser sind. Wie schnell fällen wir Urteile über andere? Finden wir in einem Satz eine Wahrheit zu einem Geschehen und besetzen gar ganze Gruppen, Völker oder Ethnien mit Klischees und Kategorien? Leisten wir selbst die Schwierigkeit von Differenzierung und nehmen wir uns die Zeit, Entwicklungen zu beobachten und zu analysieren? Die Schwächen, die Politikern vorgehalten werden, bekommen ihren Spiegel im menschlichen Alltagsverhalten. Als Wähler sind wir kaum anders als jene, die uns politisch vertreten sollen, verlangen aber, dass die anders sind. Gut, das war jetzt genauso eine Pauschalisierung über alles und jeden. Geht es anders? Das Wahlprogramm der CDU umfasst 75 Seiten, das der SPD 116, die Links-Partei breitet sich auf 144 Seiten aus und die AfD auf 76. Die Grünen haben gar 248 Seiten beschrieben und die FDP 158. Keiner der Texte passt in eine Fernsehsendung oder auf ein paar Zeitungsseiten. 817 A4-Seiten müsste man studieren, um wenigstens einen Vergleich zwischen denen anzustreben, die mit großer Wahrscheinlichkeit im nächsten Bundestag sitzen werden. Selbst die Wahlprogrammatik reicht nicht aus, um wissen zu wollen, wie es denn nun künftig wirklich werden würde. Abgesehen davon, dass sich die Welt um Deutschland in einer Weise bewegt, die wiederum in keinem Hundertseitenpapier festzuhalten wäre. Am Ende muss ein Wahlgewinner das eigene Papier mit dem eines Koalitionspartners übereinanderlegen und ein Regierungsprogramm daraus entwickeln. Kennen Sie eigentlich noch das der Großen Koalition von 2013 im Wortlaut? Die Ohnmacht vor der Allmacht der kurzen Sätze resultiert aus der Fülle an Informationen. Wenn man ehrlich ist, hat man wohl keine Wahl, sich diesen fortwährenden Verkürzungstendenzen in Wahlkampfzeiten zu entziehen. Aber bald haben Sie vier Jahre Zeit, um sich wieder umfassend damit auseinanderzusetzen, was nicht einfach gedacht werden soll. Und zum Schluss kurz gesagt: 2021 wird dann alles ganz anders genauso sein wie jetzt. Thomas Wischnewski

Zurück