Die äußere Welt und unsere innere

Prof. Dr. Gerald Wolf, Biologe und Mediziner, war lange in der Hirnforschung tätig. Außerdem ist er Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von MAGDEBURG KOMPAKT. Foto: Peter Gercke

Was wir „Welt“ nennen, reicht vom unvorstellbar Großen, von unserem Universum, bis hin zum unvorstellbar Kleinen, den Atomen, deren Teilchen und dem, woraus diese bestehen. Irgendwo dazwischen, zwischen der ganz großen und der ganz kleinen Welt, ist jene, die wir verstehen. Einigermaßen wenigstens. Zumindest glauben wir das. Eine besonders innige Beziehung haben wir zur Welt unseres eigenen Geistes. Oder ist das nur eine Illusion? Am 6. Dezember hält Prof. Dr. Gerald Wolf zu Phänomenen des Verstehens einen Vortrag im Kaiser-Otto-Saal des Magdeburger Museums. Thomas Wischnewski befragte den Hirnforscher zu Aspekten seines Vortrages.

MAGDEBURG KOMPAKT: Herr Prof. Wolf, wer „Welt“ hört, glaubt vielleicht zu wissen, was das ist. Gerät man unter der Frage, was unter der „Welt“ zu verstehen ist, nicht unversehens in Erklärungsnöte?
Prof. Dr. Gerald Wolf: Jedem von uns geht das so. Zunächst denkt man vielleicht an die ganz große Welt, an das Weltall, das Universum. Oder an die Erde, die „Welt“kugel. Schnell aber fallen einem die vielen anderen „Welten“ ein, von denen so oft die Rede ist: die Welt der Politik, die Finanzwelt, die Welt der Kultur, die der Wissenschaft und der Technik. In jedem Tropfen Wasser einer Blumenvase leben, so weiß man, ganze Welten winziger Organismen und jede einzelne Zelle unseres Körpers besteht aus einer wohlgeordneten Welt von Molekülen. Unter unserer Schädeldecke ist eine ganz besondere Welt zuhause, eine höchst private, nämlich die unseres Geistes, die unserer Seele.

Wie ließe sich all das, was wir unter „Welt“  verstehen sollten, definieren?
Die Philosophen haben darüber oft und lange nachgedacht. Am überzeugendsten finde ich zu sagen, „Welt“ ist das, was ist. Zwar klingt das trivial, ist es aber nicht. Denn selbst damit hat man seine Schwierigkeiten. Was zum Beispiel ist mit etwas nur Gedachtem, nur Vorgestelltem, nur Gefühltem? Eine religiöse Gestalt z. B., eine Märchenfigur, ein Romanheld, ein Traumgeschehen. Ist das jeweils einfach nichts, nur weil es nicht der Wirklichkeit entspricht, dem also was „ist“? Oder ist es doch etwas, weil es einer hirneigenen Wirklichkeit entspringt? Auch ein Computer zaubert fortlaufend virtuelle Gegebenheiten: Bilder, Videoszenen, Übersetzungen von der einen in eine andere Sprache, mathematische Lösungen. Ist das alles nichts, oder doch etwas, was „ist“?

Noch komplizierter wird es, wenn man an Welten denkt, die für unsere Sinne nicht fassbar sind. Zum Beispiel die Quantenwelt oder der Kosmos in seiner angenommenen Unendlichkeit oder etwaige Paralleluniversen.
Diese Wirklichkeiten sind von unserer Denkwelt weit entfernt. Unsere Vorstellungsmöglichkeiten umfassen gerade einmal den sogenannten Mesokosmos. Er reicht von Milligramm bis hin zu hunderten Tonnen, von tausendstel Sekunden bis zu mehreren hundert Jahren, von hundertstel Millimetern bis zu hunderten und tausenden Kilometern. Alles was darunter oder darüber liegt, ist nicht wirklich vorstellbar. Bestenfalls in Form von Modellen. Ein Atom zum Beispiel wird gern als ein Häufchen von Kügelchen gedacht – dem Atomkern mit Protonen und Neutronen, das seinerseits umgeben ist von noch viel kleineren Kügelchen, den Elektronen, die auf vorgezeichneten Bahnen den Atomkern umkreisen. In Wirklichkeit aber ist diese Welt des Allerkleinsten eine ganz andere. Anstelle von Kügelchen sind da Kraftfelder. Nichts Körniges gibt es da, nur in unserer Vorstellung.

Können Quantenphysiker oder Mathematiker, die ja solche Welten beschreiben, sich diese nicht wirklich vorstellen?
So großartig die Leistungen ihres Intellekts auch sein mögen, nein, das können sie nicht! Unser Gehirn ist für solche Art von Wirklichkeit nicht geschaffen. Maßstab für das, was unser Gehirn zu leisten vermag, ist die Welt, in der Homo sapiens während seines stammesgeschichtlichen Werdens tagtäglich zu tun hatte. Umso erstaunlicher ist, wie weit sich immerhin diese Art von Begrenztheit vom Prinzip her ausdehnen lässt, bis hinein in die Welt der Wissenschaft und Technik und der des Geistes. Aber eben in Grenzen.

Sie meinen also, obwohl Mathematiker oder Quantenphysiker in der Welt ihrer Formeln zuhause sind, können sie keine wirkliche Vorstellung von dieser Welt haben?
So ist es. Sie sind eben auch nur Menschen. Ein Beispiel: Wir alle rechnen mit der Zeit und richten unser Leben darauf ein, obwohl niemand so recht begreifen kann, was das eigentlich ist, die Zeit. Geschweige denn, was man sich unter der Zeit im Quadrat vorzustellen hat – z. B. eine Sekunde (s) im Quadrat (s2). Allein die mathematische Ableitung dieses Ausdrucks ist es, die wir Menschen uns vorstellen können. Was Geschwindigkeit ist, gerechnet in Metern pro Sekunde (m/s), mag jedem durchaus geläufig sein. Ebenso deren Veränderung beim Abbremsen oder Beschleunigen. Anders aber, wenn es gilt, einen solchen Vorgang zu berechnen. Die Geschwindigkeit ändert sich dann von Sekunde zu Sekunde, und heraus kommt formelmäßig: m/s pro s = m/s multipliziert mit 1/s = m/s2. Ohne Weiteres also ist zu begreifen, wie es rechnerisch zu s2 kommt, nicht aber, was die Zeit im Quadrat eigentlich ist.

Können Sie sich als Hirnforscher vorstellen, was im Gehirn so alles passiert, wenn es derartige Überlegungen anstellt?
Nein. Niemand kann das. Unser Gehirn ist gewissermaßen viel zu klein, um seine Größe jemals begreifen zu können. Ja, es scheint noch nicht einmal möglich, einen Verbund aus drei oder fünf konkreten Nervenzellen in seiner Arbeitsweise so zu kalkulieren, dass sich jemals präzise vorhersagen ließe, was hinten rauskommt, wenn vorn eine bestimmte Information hineingesteckt wird. Tatsächlich aber besteht unser Gehirn aus etwa 100 Milliarden solcher Zellen mit jeweils hunderten und tausenden von informationellen Kontakten.

Andererseits hat die Hirnforschung doch wohl Erstaunliches an Erkenntnissen zutage gefördert.
Das schon. Sie gestatten im Groben wie auch in so manchen winzigen, z. B. molekularen, Details eine Vorstellung davon, wie das Gehirn arbeitet. Dennoch überfordert die Komplexität einzelner weniger miteinander verbundener Nervenzellen unser Erkenntnisvermögen.  Und unendlich weit sind wir davon entfernt zu sagen, wie unsere innere Welt auf der Basis von Nervenzellverbänden beschaffen ist, die des Geistes, die unserer Seele, wie der Klang einer Orgel, wie das Gesicht unseres Partners, wie das, was wir unter Freude verstehen.

Zurück zur Ausgangsfrage, was „Welt“ eigentlich ist: Das, was sich an Wissen über die Welt in der Menschheit angehäuft hat, ist trotz der Grenzen unserer Vorstellungsmöglichkeiten doch geradezu ungeheuerlich viel. Anders, wenn es sich um unsere innere Welt handelt. Da glaubt wohl jeder, genau zu wissen, was gemeint ist, wenn vom eigenen „Geist“ die Rede ist.
Sobald man zu erklären versucht, was es damit auf sich hat, wird es wieder schwierig. Das Wort „Geist“ leitet sich aus dem Indogermanischen ab („gheis-“). Hier hat es die Bedeutung von erschaudern oder ergriffen sein, sich fürchten. Der religiöse Bezug ist ganz deutlich. Wie überhaupt jede Religion auf das Prinzip des Geistigen setzt. Die Philosophen der Antike waren es, die das religiös Geis-tige ins Weltliche übertragen haben. Seitdem gibt es einen bis heute andauernden Diskurs über das Verhältnis des Leiblichen (dem Materiellen) zu dem des Geistigen (dem Immateriellen), kurz: das Leib-Seele-Problem, auch Gehirn-Geist-Problem genannt. Die Hirnforschung macht mit jedem neuen Schritt deutlicher, wie sich das Geistige – die Welt des Fühlens und Wollens und des Denkens – aus dem Hirnorganischen heraus erklären mag. Ohne es bis heute wirklich erklären zu können.

Vortrag: „Die äußere Welt und unsere innere“
Prof. Dr. Gerald Wolf
Biologe und Mediziner, Hirnforscher
Museum Magdeburg, Kaiser-Otto-Saal
6. Dezember 2018, 19 Uhr, Vortrag
Zu den naturwissenschaftlichen Vorträgen im Museum ist der Eintritt frei.

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