Dekadenz

Guido Westerwelle, der verstorbene FDP-Politiker, war seiner Zeit Schmähungen ausgesetzt, weil er bestimmte Entwicklungen mit dem Begriff „spätrömische Dekadenz“ belegte. Auch ich verwende das Wort „Dekadenz“. Ich glaube nicht, dass ich das, wie Westerwelle, jemals bedauern oder gar zurücknehmen werde, denn ich bin kein Repräsentant einer Partei, der gewählt werden will. „Dekadenz“, ist das nicht eine zu radikale Bezeichnung für Erscheinungen, die man vielleicht auch mit sanfteren Attributen belegen könnte? Fragen Sie sich selbst, welche Begriffe passen. Der frühere Bundesumweltminister Jürgen Trittin, 1998 ins Amt gekommen, gab in der Zeitung „Die Welt“ zu Protokoll: „Noch nie habe ich die Nationalhymne mitgesungen und werde es auch als Minister nicht tun.“ Noch Krasseres ist von der Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth überliefert. Sie marschierte in einem Demonstrationszug mit, in dem Parolen wie „Deutschland verrecke“ und „Deutschland, Du mieses Stück Scheiße“ skandiert wurden.

Eine großartige Kulturnation

Unbestritten, das deutsche Volk hat schwere Schuld auf sich geladen. Dies jederzeit zu erinnern, muss uns eine Verpflichtung sein! Ich begrüße es, dass es in Deutschland „Denkmale zur Erinnerung an eine Schande“ gibt. Björn Höcke von der AfD sieht das ganz anders. Und damit ist hier, wie bei den Haltungen der Grünen, der Bezug zum Begriff „Dekadenz“ gegeben. Kommen wir zu der Frage, ob wir eine positive Einstellung zu unserer Nation haben sollten. Deutschland ist nicht nur assoziiert mit dem Holocaust, dem 2. Weltkrieg, mit Giftgas in Ypern und mit anderen Schrecklichkeiten. Deutsche waren nicht nur die Nazis, sondern auch jene, die Widerstand geleistet haben, wie die Geschwister Scholl, Dietrich Bonhoeffer, mutige Sozialdemokraten, Kommunisten u. a. m. Deutschland hat zu Recht den Ruf, das „Land der Dichter und Denker und der großen Humanisten“ zu sein. Lessing mit der Ringparabel fällt mir ein, Max Planck, Hegel, Kant und Albert Schweitzer. Wollte man eine Liste der wichtigsten Namen aufstellen, müsste man Bücher füllen. Es sind übrigens viele Juden darunter, wie Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Liese Meitner und Albert Einstein, auch Rosa Luxemburg mit ihrem Engagement gegen den Krieg und ihren anrührenden Briefen aus dem Gefängnis. Nur wer intellektuell und emotional verkümmert ist, blendet eine der beiden Seiten Deutschlands aus. Wir sind eine großartige Kulturnation, die nicht über, aber auf Augenhöhe mit allen anderen Völkern steht. Die Konzerthäuser der Welt werden zu einem erheblichen Teil gespeist von Musik, die Deutsche komponiert haben. Die deutsche Sprache und deutsche Literatur werden hoch geschätzt.
Damit sind wir wieder beim Thema „Dekadenz“ angelangt. Unsere Sprache fällt einer Barbarei zum Opfer. In diesem Jahr ist die EKD (Evangelische Kirchen Deutschlands) vom „Verein deutsche Sprache e.V.“ (in dem ich Mitglied bin) zum Sprachpanscher des Jahres gewählt worden. Die EKD wähnt sich in der Nachfolge Luthers, schätzt aber die deutsche Sprache gering, indem sie manche ihrer Botschaften in deutsch-englischem Kauderwelsch präsentiert. Das ist ärgerlich, aber noch nicht dekadent. Aber dies schon: Die EKD schreitet bei der Pflege der Genderideologie mit voran. Zum Kirchentag 2017 hat sie Kirchen- bzw. Volkslieder gendergerecht umgeschrieben. Aus „Lobe den Herren“ wird „Lobe die Ewige“ und in einem der schönsten Volkslieder „Der Mond ist aufgegangen“ wird die Zeile „So legt euch denn ihr Brüder“ durch „So legt euch, Schwestern, Brüder“ ersetzt.
Proklamiertes Ziel der Genderideologen ist es, mehr Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen. Das wär ja gar nicht schlecht. Dabei geht es nicht nur um Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Nach ihrer absurden Weltsicht gibt es hunderte verschiedene Geschlechter, von denen keines benachteiligt werden darf. „Unser Land wird sich ändern und zwar drastisch“, freute sich im Wahlkampf Katrin Göring-Eckardt. Ein Weg, die Welt zu verändern, wird in einer radikalen Revision der Sprache gesehen. Sprache schafft Bewusstsein! Dass so etwas funktioniert, hat schon Viktor Klemperer mit seinem Werk „LTI“ (Lingua Tertii Imperii) eindrucksvoll gezeigt. Diesmal geht es aber nicht um Böses, sondern um hehre Ziele. Dass Begriffe wie „Mannschaft“ nicht mehr gehen und durch „Team“ ersetzt werden, verwundert da kaum noch. Auch „herrlich" oder „dämlich“ stehen auf dem Index, könnte man doch versucht sein, dem positiv besetzten Begriff den Herren und das abwertende Wort den Damen zuzuordnen. Auch das viel gebrauchte Pronomen „man“ geht gar nicht mehr. Am besten sagt man nur noch „frau“. Für die Schriftform hat man zur Erlangung der absoluten Gerechtigkeit die Schreib-weise mit dem Genderstern ersonnen. Es reicht nicht, Bürgerrinnen und Bürger zu schreiben, sondern mit dem Genderstern in Bürger*innen hat man auch all die vermeintlich anderen Geschlechter angesprochen. Sprechen kann man das gar nicht. Elegant erscheint den Weltverbesserern die Variante, Wörter des generischen Maskulinums durch Partizipialformen zu ersetzen. Obwohl nach den Regeln der deutschen Sprache der Begriff „Studentenschaft“ selbstverständlich Studenten und Studentinnen einbezieht, wird in vielen Städten das Studentenwerk kostenaufwändig in „Studierendenwerk“ umbenannt. Bei dem Unsinn dieser Art machen selbst konservative Parteien mit. Das CSU-geführte Verkehrsministerium entschloss sich zu einer Anpassung der StVO an das „Erfordernis der sprachlichen Gleichbehandlung von Männern und Frauen“. Fußgänger und Radfahrer werden nun als „Zufußgehende“ bzw. „Radfahrende“ bezeichnet. Helfer werden zu Helfenden. Was wird eigentlich mit Helfershelfern (etwa Helfendenhelfende)? Ist es nicht sowieso Quatsch, zu sagen „auf den Bänken in der Zufußgehendenzone sitzen auch Radfahrende“? Oder in den Straßen Pekings lagen nach dem Massaker vom 4. Juni 1989 tote Studierende?
Kurz, die neue Sprache ist absurd, sie erlaubt weder Klarheit noch ermöglicht sie Literatur. Dass „Die Linke“ in Flensburg eine Beschlussvorlage in den Stadtrat eingebracht hat, wonach Gebrauchsgegenstände künftig in weiblicher Form benannt werden sollen, ist keine satirische Erfindung, sondern amüsante Realität. Danach hieße es dann „Bleistiftin“, „Kugelschreiberin“, „Staubsaugerin“ usw. An der Uni Leipzig wurde angewiesen, dass Titel immer weiblich gebraucht werden müssen: Also nicht nur Frau Professorin, sondern auch Herr Professorin, Herr Oberärztin usw. Die Taliban und die IS-Kämpfer schleifen seit einiger Zeit die steinernen Zeugen der Kultur ihrer Länder. Tempel, Statuen und andere Kunstwerke fallen dem zum Opfer. Aber sie kommen nur langsam zum Ziel. In Deutschland sind wir schneller. Die Zerstörung der Sprache, des höchsten Kulturgutes eines Volkes, schreitet in atemberaubendem Tempo voran. Wann wird es so weit sein, dass auch Beethovens Neunte, in der es ja heißt „alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“ im Namen der Gendergerechtigkeit als Kulturmüll entsorgt wird?

Die Proklamation einer Rolle

In Freiburg i. Br. hat kürzlich eine Kommission Straßennamen kritisch überprüft. Personen, die mit zweifelhaftem Verhalten oder gar mit Verbrechen (etwa im 3. Reich) in Zusammenhang gebracht werden, sollen nicht mehr durch Straßennamen geehrt werden. Soweit so gut! Gebildete Menschen rieben sich allerdings die Augen, als bekannt wurde, dass auch Carl von Linné (1707 - 1778) auf den Index kam. Linné gehört zu den größten Wissenschaftlern aller Zeiten. Er hat die Vielfalt der belebten Natur mit seinem bahnbrechenden Werk „Systema Naturae“ systematisiert. Er teilte die Lebewesen nach Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Species ein und ordnete sie einem Verwandtschaftsgrad zu. Das alles hat vermutlich ewige Gültigkeit. Nach seiner Nomenklatur ist die Frühlingsprimel eine Primula vernalis, unsere Honigbiene eine Apis mellifera. und der geschätzte Leser, der diese Zeilen vor Augen hat, ein Homo sapiens. Und was ist Linnés Verbrechen? Er hat eine Klasse der Wirbeltiere, zu der auch wir Menschen gehören, nach ihrer Eigenschaft als Mammalia (Säugetiere) definiert. Damit hätte Linné die dienende Rolle der Weiblichkeit proklamiert, sagen die Kritiker*innen. Er hätte ebenso gut ein anderes, weniger sexuell aufgeladenes Merkmal wählen können. Seine taxonomische Entscheidung für die weibliche Brust sei sozusagen ein politisches Programm. Die Frauen seien durch ihn auf ihre Mutterpflichten verwiesen worden. Der Gedanke, dass Merkmale, die für Lebewesen prägend sind und sich für eine taxonomische Klassifikation eignen, nicht von einem grünen Politbüro festgelegt werden können, ist der Genderpolizei völlig fremd. Auch dass Frauen, die mit einer gesunden Psyche ausgestattet sind, überwiegend gern Mütter sein wollen, wird in diesen Kreisen gering geschätzt.
Wie schön, dass das Streben nach Super-Gender-Gerechtigkeit auch Lustiges hervorbringt. In dem neuen Toiletten-Konzept des Berliner Senats heißt es: „Aus Sicht der Gleichstellung sind Pissoirs nicht akzeptabel“. Diese werden nun durch Designer-Urinale ersetzt, an denen auch Frauen im Stehen pinkeln können. Kostenpunkt: 15 Millionen! Hier gefriert das Lachen. Übrigens, Umfragen zeigen, dass die meisten Frauen ihre Gleichwertigkeit lieber in anderen Lebensbereichen beweisen.
Dekadenz, was ist das überhaupt? Sie ist definiert als Verfall von ethischen und kulturellen Werten (französisch décadence „Niedergang“). Die Kultur eines Landes ist ganz wesentlich durch ihre Geschichte geprägt. Europa ist ein Kontinent mit einer christlichen Tradition. Davon sind nahezu unsere gesamte Kultur und das tägliche Leben geprägt. Spitäler, Kurorte, Quellen, Bergeskuppen, ja sogar Verkehrszeichen und alkoholische Getränke sind nach Heiligen und namhaften Theologen wie Martin Luther benannt. In unserer Kultur haben Vornamen meist ihren Ursprung in der Bibel. Die meisten unserer Feiertage sind christlich begründet. Wir alle feiern sie, auch wenn manch einer gar nicht weiß, was z. B. Pfingsten bedeutet. Auf welchen Reichtum von Kulturschätzen müssten Atheisten verzichten, würden sie religiöse Kunst aus ihrem Leben verbannen. Malerei mit christlichen Motiven, Musik von Bach, Händel, Telemann etc. stehen ganz oben auf der Kulturagenda unserer Gesellschaft. Es ist legitim, diese Art von „Kulturreligiosität“ zu leben, auch wenn man nicht „bekenntnisreligiös“ ist. Das Christliche mit dem Ruf nach politischer Korrektheit verdrängen zu wollen, folgt einem Gerechtigkeitswahn, der anstrebt, dass sich zugewanderte Muslime nicht durch unsere Kultur gestört fühlen. Da wird das Fest des Sankt Martin in „Sonne, Mond und Sterne-Feier“ umbenannt und in Berlin, nicht nur in Kreuzberg, muss der Weihnachtsmarkt seit 2014 „Winterfest“ heißen. Vorgebliche Korrektheit macht vor Kulturgut keinen Halt. So werden Lieder wie „Ihr Kinderlein kommet“ durch das banale „Jingle Bells“ verdrängt.
Das russische Wort für Sonntag ist „Voskresenije“. Das heißt Auferstehung und bezieht sich auf die biblische Botschaft. Wären Lenin, Stalin und Breschnew nur halb so konsequent gewesen, wie einige Initiatoren, die nicht einmal Weihnachtsmärkte dulden wollen, hätten sie ihre Sprache von einem solchen „Unwort“ gesäubert.
Es ist übrigens nichts dagegen einzuwenden, dass Zuwanderer hier bei uns ihren Glauben leben. Aber müssen wir unsere Kultur liquidieren, damit sich irgendjemand nicht gestört fühlt? Das „Haus der Heilberufe“ in Magdeburg hat jedenfalls eine Vernissage verboten, weil Aktbilder Gefühle von muslimischen Zuwanderern verletzen könnten! Wie schnell werden wir dahin kommen, dass der Faunbrunnen in der Leiterstraße und andere Nacktskulpturen in unserer Stadt eingeschmolzen werden? Aber noch ärger kommt es, wenn im Sinne einer vermeintlichen Gerechtigkeit Kriminalität toleriert wird. In einigen muslimischen Ländern ist es üblich, kleinen Mädchen die Klitoris und die Schamlippen mit Rasierklingen abzuschneiden. Die Gepflogenheit wird möglicherweise nach Europa exportiert. Führende feministische Gender-„Forscherinnen“ wie Judith Butler, deren Lehren auch die Lehrbücher der Erziehung zur sexuellen Vielfalt in unseren Schulen mitbestimmen, sprechen sich dafür aus, den abwertenden Begriff „Genitalverstümmelung“ durch das wertfreie Wort „Genitalbeschneidung“ zu ersetzen, um Muslime nicht vorschnell zu verurteilen. Wie naiv war es doch von mir, anzunehmen, Feministinnen kämpften für Frauenrechte! Alice Schwarzer hat übrigens ihren Verstand nicht verloren und ist so entsetzt wie ich und vielleicht auch wie Sie? Weitere Beispiele für Dekadenz gefällig? Eigentlich gern, aber der mir zur Verfügung stehende Platz ist verbraucht. Prof. Dr. Reinhard Szibor

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