Das Mittelalter der Gegenwart

„Das Jüngste Gericht“ ist ein Triptychon von Hans Memling (Das Original befindet sich im Nationalmuseum Danzig). Memling lebte zwischen 1433 und 1440 in Seligenstadt und starb am 11. August 1494 in Brügge.

Das Jüngste Gericht, die allgegenwärtige Erbsünde, Gnadenlehre und Ablass – im Mittelalter verdichteten sich die Erzählungen über das Böse im Menschen. Blickt man auf heutige Schilderungen, trifft man überall auf eine Front an geistiger Destruktivität. Wo sind die Geschichten der Zukunft?

Die Herkunft der Reformation aus dem Geist der temperierten Verzweiflung“, überschrieb der zeitgenössische deutsche Philosoph Peter Sloterdijk in seinem 2017 erschienenen Buch „Nach Gott“ eine analytische Abhandlung über die spätmittelalterliche Zeit, über deren gesellschaftliche Atmosphäre sich der Lutherische Geist und die Reformation erhoben hatte. „Man sollte es nicht als Zufall betrachten, wenn das erste Hervortreten Luthers mit der Handhabung der Frage zu tun hatte, wie mit den Tatsachen der Schuld, der Buße, der Verzweiflung und der Vergebung umzugehen sei. Die Ablaß-Thesen vom Oktober 1517 bedeuteten summa summarum nichts anderes als eiferndem, aus historischer Distanz betrachtet, haarspalterische Einlassungen zu Fragen der äußerlichen und innerlichen Buß-Verwaltung“, schrieb Sloterdijk in dieser Abhandlung.

Die Überlieferungen aus dem Mittelalter sind voller destruktiver Projektionen. Buße zu tun, war wohl eine allgegenwärtige Forderung. Dem Menschen blieb in der eingepflanzten Vorstellung, ein Sünder auf Lebenszeit zu sein, eine unüberwindliche Gewissenslast. Angedrohte Höllenqualen und apokalyptische Prophezeiungen hielten die Menschen zahm und angepasst gegenüber dem Klerus und den Fürsten. Die Macht der Kirche bröckelte mit der Reformation und die Aufklärung öffnete manches geistige Gefängnis. Doch heute, 500 Jahre nach Luther, erleben wir erneut einen Dunst aus düsteren Erzählungen und Untergangsorakeln. „Wenn Prophetismus scheitert, entsteht Apokalyptik; scheitert auch Apokalyptik, so entsteht Gnosis“, in diese Formel packt der Philosoph Sloterdijk das Geschehen. Gnosis bezeichnet üblicherweise ein religiöses Wissen, das die Gnostiker nach eigenem Verständnis von der übrigen Menschheit abhebt. Zeitgenossen solcher Art findet man heutzutage an jeder Straßenecke oder inflationär im Internet. Und man möchte unter der aktuellen geistigen Sphäre Sloterdijks Beschreibung fast wie eine historische Gesetzmäßigkeit begreifen.

Es existiert heute kein Lebensbereich, der nicht von negativen Erzählsträngen überlagert wird. Allen voran rangiert der Klimawandel. So vergeht kein Tag, an dem nicht vor schlimmen Folgen gewarnt wird. Jede Wetterlage, Unwettererscheinungen, Missernten und statistische Temperaturkurven müssen fortlaufend als Belege für einen drohenden Untergang oder für ein Morgen ohne Zukunft herhalten. Keine negative Entwicklung soll hier relativert werden. Es geht vielmehr um das geistige Klima, das daraus resultiert. Wollte man noch eine historische Analogie herstellen, könnte man den mittelalterlichen Ablasshandel der katholischen Kirche mit der bevorstehenden Einführung einer CO2-Steuer vergleichen. Kaufte man sich damals von seinen Sünden frei, kann man sein ökologisches Gewissen bald mit einer entsprechenden Abgabe erleichtern. Die politische Argumentation sagt zwar, dass Bürger mit geringem Einkommen auf andere Weise finanziell entlasten werden sollen, doch die Kehrseite bedeutet eben, dass Besserverdiener sich weiter den ökologischen Fußabdruck leisten können, der ihren Ansprüchen gerecht wird. Allein die permanente Proklamation, dass die Steuer etwas zum Positiven steuern könnte, schafft eine Bereitschaft, für die eigenen Klima-Sünden Buße zu tun. Positive Effekte aus der Abgabe werden versprochen, aber ihre realistischen Wirkungen bleiben zweifelhaft. Die unzähligen Geschichten, die mit einer bevorstehenden Klimakatastrophe einhergehen, werden noch aus den kleinsten Winkeln des Alltags herausgeschält. Konsum, Essverhalten, Mobilität, Tourismus – jeder Winkel unseres Seins ist bereits auf negative Folgen durchleuchtet und berechnet. Die Überflussgesellschaft mit ihrer weltumspannenden Zerstörungskraft folgt aus allem. Allerdings messen wir an der eigenen Perversion des Überflusses sogar die Armut auf anderen Kontinenten. Ob die westliche Konsumwelt als Maßstab für die Bedingungen in anderen Ländern herhalten darf, muss bezweifelt werden. Es erreichen uns trübsinnige Schilderungen über ausgebeutete Menschen, die für Hungerlöhne die Waren herstellen, die wir für unentbehrlich halten. Kauften wird diese aus sozialem Gewissen heraus konsequenterweise nicht mehr, was würde wohl aus den Menschen und ihren Jobs werden?

Horrorszenarien verbreiten sich ebnso über die gesellschaftliche Entwicklung. Wollte man den ständigen Warnungen vor einer drohenden Wiederkehr eines Nazi-Regimes tatsächlich Glauben schenken, müssten eigentlich Menschen mit Migrationshintergrund scharenweise das Land verlassen. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn schon historische Vergleiche mit einer Zeit vor 1933 angestellt werden, müssen auch die damals postulierten Negativskripte berücksichtigt werden. Auf die Warnungen voreinander haben sich Linke wie Rechte eingeschossen. Jede Seite übt sich in Angst-Erzählungen und drückt auf die Stimmung im Land. Die nationale Befindlichkeit geht mit den vielen Berichten über die Grauen im Weltgeschehen einher. Man hat den Eindruck, an keinem Ort der Erde  würde noch ein Licht für die Zukunft scheinen. Indem der Imperator Donald Trump die Welt mit Handelsbeschränkungen das Fürchten lehrt, beklagt die europäische Elite den Untergang des Welthandels, ein nationales Abschotten und die Gefahr einer stockenden Globalisierung und ein Ende der europäischen Integration. Kurioserweise stimmen vielfach linke Politiker in das Geheul ihrer einstigen Urfeinde von der Wirtschafts- und politischen Machtelite mit ein. Während von der sogenannten populistischen Front die Mahnungen über soziale und ökonomische Niedergänge der großen Industrienationen hochgehalten werden.

Man kann heute keinen Blick auf das Gesundheitswesen werfen, ohne dass nicht Mangel, Chaos, Abrechnungsskandale, Ärztepfusch oder Pharma-Interessen zum Vorschein kommen. Genauso fraglich ist, ob man im Bereich der Bildung überhaupt noch ein positives Fünkchen finden kann. Die Zunahme von Verbrechen und Gewalt muss nach den täglichen Nachrichten bald dazu führen, dass niemand mehr das Haus ohne Angst verlassen kann. Wissenschaft und Forschung sollen vielfach durch politisch motivierte Fördervergaben gesteuert werden und lieferten kaum noch herausragende Ergebnisse für den Fortschritt. Beim oft zitierten digitalen Wandel vergleichen wir uns mit Entwicklungsländern auf dem afrikanischen Kontinent und reden gleichzeitig vom großen Jobverlust für viele. Es gibt offenbar auch keinen Winkel in der deutschen Gesellschaft, in dem sich nicht Geschlechterungerechtigkeit, Frauenbenachteiligung oder sexistischer Chauvinismus eingerichtet hat. Ein Leben ohne Betrug, Übervorteilung und Geldschneiderei existiert nicht mehr. Noch jeder windet sich in Krallen des gierigen Staates und resigniert vor Bürokratie und Duckmäusertum. Die Reihe der destruktiven Dramen ließe sich endlos fortsetzen. Eine Vision, die aus der geistigen Misere herausführen würde, ist nirgends in Sicht. Aber vielleicht ist das auch nur eine weitere apokalyptische Darbietung.

Hier müsste die Frage erlaubt sein, wann sich ein Kritiker wie Luther über die Höllen-Berichte erhebt und der Zukunft eine neue Richtung schenkt. Innerhalb der Politik ist derzeit kein solcher Protagonist oder eine entsprechende Akteurin auszumachen. Lethargie und Ohnmacht strahlen politische Parteien aus. Dabei scheitern sie eigentlich nur an den selbst transportierten und verstärkten Negativszenarien. Medien und Internetnetzwerke erscheinen wie Megafone, die jeden noch so kleinen Aufschrei auf Skandalniveau hochheizen. Die Frage muss erlaubt sein, ob nicht diese gesellschaftliche Atmosphäre der Boden für Entwicklungsverkümmerung und vielfach Verzweiflung ist. Ob nicht Abwendung vom Gemeinsinn oder angeblicher Zukunftsverlust der heranwachsenden Generationen aus den verbitterten Erzählstrengen genährt werden. Sogar die immer wieder angeführten, ständig steigenden psychischen Erkrankungen könnten sich aus einem Pfuhl der Niedergänge und Gefahren speisen.

Das Mittelalter überwand die geistige Dunkelheit durch gewaltsame Umbrüche. Reformation und Dreißigjähriger Krieg können neben ökonomischen und Machtfragen auch als Folge der geistigen Düsternis begriffen werden. Wenn man die oft bemühte Analogie ähnlicher politischer Prozesse in den 1920er Jahren annehmen will, darf man neben der fürchterlichen Programmatik der Faschisten nicht das damals herrschende geistige Klima vergessen. Man sollte bei solchen Vergleichen progressiv auf die geschichtliche Erfahrung schauen. Es ist nicht anzunehmen, dass sich heute irgendeine Partei den Nazis vergleichbare Ziele ins Programm schreiben würde. Vielmehr ist geboten, Vergangenheit nicht einseitig zu verklären. Menschen sind keine ewigen Sünder. Alles, was unsere Gegenwart ausmacht, steht auf den Schultern der Vorgenerationen und deren Leistungen. Wer wirklich für Veränderungen einstehen will, sollte sie aus den bestehenden Werten heraus erklären, jedoch nicht aus apokalyptischen Prophezeiungen. Solche haben eher in Zerstörung und Tod geführt als zu akzeptablen Lösungen. Es ist besser, Bäume zu pflanzen, als permanent das Urteil des Jüngsten Gerichts zu fürchten. Es gilt der Destruktivität dieser vielen Negativ-Diskurse entgegenzutreten, damit kein geistiger Nährboden, wie er sich im Mittelalter verbreitet hatte, entstehen kann. Thomas Wischnewski

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