„Ab morgen gibt’s in die Fresse!“

Mit 66 Prozent hat sich Andrea Nahles zum SPD-Vorsitz gezittert. Von Euphorie war nichts zu spüren. Die SPD-Wiedergeburt, die die Frau aus der Eifel einleiten soll, startet schon mit Komplikationen.

Zerstoben sind die Hoffnungen, dass Martin Schulz‘ maximal tiefer Fall vom vorher erklommenen Umfragegipfel ein Wendepunkt in den Geschicken der sozialdemokratischen Partei ist. Bekanntlich blieb Schulz nicht nur hinter dem glücklosen Steinbrück zurück, sondern auch hinter dem noch glückloseren Steinmeier. Die ganze Geschichte der Bundesrepublik wies für die SPD kein größeres Debakel auf. Und würde man eine noch niedrigere Zahl vor dem Komma für die SPD bei nationalen freien Wahlen sehen wollen, müsste man bis zur Reichstagswahl vom Februar 1890 zurückgehen.

Wäre die jüngere Geschichte der Sozialdemokratie ein griechisches Drama, müsste auf der jetzigen Talsohle eigentlich die Peripetie, der plötzliche Umschwung zum Besseren, zu erwarten sein. Stattdessen aber werden auf die Tiefen keine Höhen folgen, sondern Siechtum und Selbstzerfleischung.

Dabei dürfte man von Andrea Nahles eigentlich mehr erwarten. Ihr Griff nach dem Fraktionsvorsitz, die Ouvertüre zum 22. April, war ein machtpolitisches Meisterstück. Gebraucht wurde Nahles damals auch als Populismusfighterin, denn der AfD-Erfolg bei der Bundestagswahl ging nicht nur zu Lasten der Union. Konsequenterweise startete sie ihre Regentschaft mit der Ankündigung, dass es für die CDU ab dem nächsten Tag auf die Fresse gebe. Nur: Dieser Schuss ging nach hinten los. Das Echo auf die vulgäre Ankündigung war verheerend. Nahlesversteher in der SPD bemühten sich alsbald, den Sager als unglücklichen Scherz abzutun. Das Ganze erinnerte doch sehr an das beliebte AfD-Spiel, irgendeine zweifelhafte Sottise in die Öffentlichkeit zu trompeten, die dann in den folgenden Wochen durch allerlei Deutung und Relativierung wieder zurechtgerückt werden soll.

Auch die andere seinerzeitige Einstiegsansage Andrea Nahles‘, jetzt dem „digitalen Kapitalismus“ den Kampf anzusagen, war ein Flop. Erstaunlich schlicht, eindimensional und retro war dieser Satz. Mit dem auch schon nicht mehr taufrischen Godesberger Programm im Handgepäck hätte man von der Partei ja eher erwartet, dass sie den digitalen Kapitalismus zähmen, ordnen und gestalten wolle. Aber nein! Zwar befürchtete niemand, dass die SPD konzeptuell einen digitalen demokratischen Sozialismus überhaupt zu Stande bringen vermochte. Die digitale Ökonomie aber als eine der wichtigsten wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven der Bundesrepublik zum Gegner zu erklären, ließ an der Zukunftsfähigkeit der SPD zweifeln. Bei der Bewerbungsrede für den Parteivorsitz hat sich jetzt erwiesen, dass Andrea Nahles durchaus willens und fähig ist, aus Fehlern zu lernen: Nunmehr soll der „digitale Kapitalismus“ lediglich gebändigt und nicht mehr abgeschafft werden. Auch Gewaltandrohungen sowie Kinderreime und -lieder gab es diesmal nicht zu hören. Das war aber wohl too little, too late, wie das angelsächsische Sprichwort besagt.

Die Rede der Herausforderin Simone Lange war ebenfalls solide, aber keinesfalls inspirierend. Geboten wurde das traditionelle Portfolio linker Sozialdemokraten. Inhaltlich Ralf Stegner, aber mit einem Lächeln vorgetragen. Trotzdem bekam Andrea Nahles einen herben Dämpfer. Das erklärt sich nicht mit einigen misslungenen Auftritten oder der klassischen Lust sozialdemokratischer Parteitagsdelegierter, ihren Vorsitzenden ein Bein zu stellen.

Vielmehr offenbart sich immer mehr das grundlegende strategische Dilemma der SPD. Durch die Einkeilung zwischen Linkspartei und AfD werden ihre Flügel zerzaust. Der Würgegriff der sozialdemokratisierten CDU geht ihr direkt ans Leben. Und die grüne Strahlkraft im Milieu linksliberaler bürgerlicher Besserverdiener hat der Partei den intellektuellen Rahmen genommen, auf den sie sich noch bis in die Nuller Jahre berufen konnte. Auf ein Gewissen der Nation, dass nach dem Ableben des notorischen SPD-Empfehlers Günter Grass zur Wahl der Genossen raten würde, kann das Willy-Brandt-Haus nicht mehr hoffen. Drohende Wolken sind am europäischen Horizont in Sicht: Die französische Schwesterpartei musste nach zahlreichen Niederlagen schon ihre traditionelle Parteizentrale aufgeben, weil der sinkende Zuspruch nicht mehr genügend Mittel zu deren Unterhalt generierte. Das niederländische Pendant kam bei der letzten Wahl nicht einmal auf 6 Prozent. Und in Österreich rangelte die altgediente Staatspartei SPÖ mit den der AfD vergleichbaren Freiheitlichen um den zweiten Platz, den sie nur mit weniger als einem Prozent Vorsprung erreichte.

Die Sozialdemokratie gerät aus allen anderen Lagern unter Druck: Sei es, weil man ihre Themen kopiert, sei es, weil andere kaltlächelnd einfach den sozialdemokratischen Zielsetzungskatalog überbieten, wohlwissend, für die Erfüllung haltloser Versprechen kaum einmal in Haftung genommen zu werden. So erging es der SPD mit der Linkspartei: Der große Triumph der Einführung eines Mindestlohns wurde eingetrübt durch die Tatsache, dass die Linke schlicht noch einmal 2 Euro mehr pro Stunde forderte. Führende Sozialdemokraten wollen Lockerungen bei rigiden Hartz-IV-Regeln? Hilft nichts, mit der Linkspartei wird angeblich die ganze Reform rückabgewickelt. Die CDU hingegen handelt unter Merkel seit 2005 nach dem Grundsatz, prinzipiell das Gleiche wie die SPD zu bieten. Renteneintrittsalter, Mindestrente, Kinderbetreuung, Kindergeld: Wo immer die Genossen bereitstehen, eine soziale Wohltat zu ermöglichen, ist die linksgewendete Union zur Stelle und ruft „Wir doch auch!“. Ein wenig anders verhält es sich mit den Grünen: Hier hechelt die SPD seit den Achtzigern deren Forderungen hinterher, immer emsig darauf bedacht, Schritt zu halten. Energiepolitik, Umweltpolitik, Zuwanderungspolitik: Was die Ökos können, möchte die SPD auch erbringen. Nur dass die Grünen lediglich auf einstellige Prozentzahlen im Milieu der sozial Abgesicherten und Arrivierten kommen müssen, um erfolgreich zu sein, für die SPD hingegen ist eigentlich alles unter dreißig Prozent eine Katastrophe – die aber mittlerweile perpetuiert ist.

Und dann sind da noch die ungeliebten schmuddeligen Neuankömmlinge von der AfD. Was die versprechen, möchte die SPD auf keinen Fall in Aussicht stellen. Nur: Die traditionelle Kernwählerschaft der SPD, die in den Merkeljahren in Teilen schon bei der Union heimisch geworden ist, hat nach Jahren der grüngefärbten Entfremdung von der SPD ein sehr offenes Ohr für die Themen der Blauen. Nun sitzt die Sozialdemokratie in der Falle: Jeder Versuch, einen Befreiungsschlag auf der einen Flanke zu wagen, öffnet die andere. Verwandelte sich Andrea Nahles beim nächsten Wahlkampf in eine Mischung aus dem britischen Labour-Chef Corbyn und der Linksparteivorsitzenden Kipping, würde die Union zur Fluchtburg der ökonomischen Vernunft. Führe die SPD einen härteren Kurs im Bereich der Migration oder des Säkularismus, könnten Grüne und Linke einen Teil der SPD-Wählerschaft übernehmen. Und in der Mitte präsidiert schon die ebenso profillose wie wendige Union. Jeder sozialdemokratische Vorstoß hier würde vor allem Häme nach sich ziehen, dass die beiden Volksparteien doch einander glichen wie Zwillinge. In dieser Disziplin haben im letzten Wahlkampf vor allem die Parteichefs Christian Lindner und Jörg Meuthen reüssiert, die die angebliche Rivalität der notgedrungenen Koalitionäre als „Szenen einer alten Ehe“ oder die politische Ähnlichkeit der Spitzenkandidaten als das Auftreten von „Margela Schurkel“ verspotteten.

Es wäre aber zu kurz gesprungen, die Misere der SPD nur den Gemeinheiten ihrer Konkurrenten zuzuschreiben. Die Kaste hauptberuflicher Funktionäre, die die Geschicke der Partei lenkt, hat sich längst in ihrer eigenen Welt eingerichtet. Mit dem dogmatischen Anspruch von Akademikern, die jenseits von Jugendorganisation und dem Hörsaal linker Geisteswissenschaften oft nicht viel außerhalb des grün-sozialdemokratischen Paralleluniversums erlebt haben, lässt sich eben kaum eine zündende Kampagne für die „kleinen Leute“ gestalten. Und schien die undurchlässige und durch Proporz und informelle Absprachen zementierte Parteistruktur und -kultur früher einmal Garant dafür zu sein, dass nicht das Chaos ausbricht, ist sie heute eher lähmender Klotz am Bein. Denn die linken Feuerköpfe, wie deren letzter Schröder einer war, haben gar keine große Lust mehr darauf, die Sozialdemokratie zu unterwandern, zu übernehmen und dann Deutschland umzukrempeln. Stattdessen stehen heute selbstoptimierte Jungfunktionäre Schlange, die statt für „konkrete Utopien“ im Sinne Blochs zu streiten nurmehr die Glaubenssätze jener Schicht von globalisierungsprofitierenden Burgeois Bohemians herunterbeten können, die im Prenzlauer Berg ebenso gut ankommen wie im Silicon Valley, aber in einer aus den Fugen geratenen Welt zunehmend weniger massenwirksam sind. Dabei ist die Sehnsucht nach richtigen Sozis durchaus spürbar: Das sieht man nicht nur an Figuren wie Corbyn oder Bernie Sanders, dem linken Idol der US-Demokraten, die den Eindruck erwecken, es wäre plötzlich wieder 1973. Auch Martin Schulz hat im kurzen Frühling des Schulzhypes genau diese Welle geritten. Da er sich aber sehr schnell als mausgrauer Funktionär ohne Vision, Pathos und Revoluzerattitüde entpuppte, der Energie vor allem beim Sichern seiner Pfründe zeigte, erlosch die Hoffnung auf eine neue ultrasozialdemokratische Dynamik schnell. Ganz anders sieht es in Großbritannien und den USA aus: Momentum, Corbyns eigene Plattform innerhalb der Labour Party, zeigt, dass es für einen Sozialdemokraten durchaus noch immer möglich ist, Anhänger zu gewinnen, die über Jahre bei der Stange bleiben. Und das Momentum von Momentum wurde auch durch eine Niederlage nicht gebrochen: Im Gegenteil, Corbyns Truppe hat sich den Mund abgeputzt und weitergemacht. Inzwischen ist eine Art Thatcher-Revolution, diesmal aber als ihr Gegenstück von ganz links, in greifbare Nähe gerückt.

Offenkundig hat in der westlichen Welt also eine Linke die Chance auf Mehrheitsfähigkeit, die sich nicht vorrangig kulturrevolutionär und identitätspolitisch betätigt, sondern klassisch sozialistisch orientiert ist. Abhängig ist dieser Trend aber immer von einer charismatischen Führungsfigur, die zumindest nach Anti-Establishment riecht, wenn sie auch Establishment ist. In der deutschen Sozialdemokratie aber sind solche Gestalten nicht durchsetzungsfähig. Kevin Kühnert und Simone Langen haben viel medialen Wind erzeugt und beachtliche Ergebnisse erzielt, aber von einer Mehrheit sind sie so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Sie verkörpern das unruhige Drittel, das stark genug ist, jedem SPD-Zentristen die Amtszeit zur Hölle zu machen, ohne ihn aber stürzen zu können. Solange dies so bleibt, ist jeder sozialdemokratische Vorturner zur Rolle des Sisyphos verdammt, der immer wieder vergeblich den Gipfel der Bundesrepublik zu erreichen versucht.

Andrea Nahles ist jedenfalls ganz gewiss nicht die notwendige massenwirksame linke Lichtgestalt. Die kommende Kanzlerkandidatin hat seit Eintritt der Volljährigkeit nichts anderes gemacht als Parteipolitik. Und die Zurechnung zum linken Flügel der SPD hat ihr geschmeidiges Mitwirken in allerlei großen Koalitionen nicht im Geringsten beeinträchtigt. Mehr ermüdendes Establishment geht eigentlich nicht, da helfen auch keine kalkulierten Provokationen. Vulgäre Verbalinjurien stärken nicht die Verbundenheit mit den Unzufriedenen. So wird die SPD nicht vom retrolinken Trend profitieren können, sondern auch bei der nächsten Wahl auf die Fresse kriegen. Prof. Dr. Markus Karp

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