„Wir brauchen eine Rakete“

Dominic Bösel im ersten Duell gegen Karo Murat (l.).

Das deutsche Profiboxen ist auf Talfahrt, Niveau und TV-Quoten sind im Sinkflug. Mit dem nahezu kompletten Ausstieg des Fernsehens spitzte sich die Situation weiter zu.

Das Urteil deutscher Marketing-Experten fällt ziemlich mies aus: Boxen, so gaben sie in diesem Sommer in einer Umfrage des Online-Portals Stadionwelt zu Protokoll, befindet sich hierzulande im Abschwung. Das Potenzial der einst drittbeliebtesten Sportart nach Fußball und Formel 1 weise deutlich nach unten. Die Zukunftsaussichten des Faustkampfes sehen die Business-Profis ähnlich schlecht wie die von Hockey, Turnen und Schwimmen.

Was ist dran an solchen Prognosen? Haben die befragten Branchen-Insider – vor allem Vermarkter,  Sponsoren, Medien-Vertreter, Forschungseinrichtungen und Consulting-Agenturen – bei  ihrer Bewertung vielleicht nur rein wirtschaftliche Faktoren zu Rate gezogen, das Sportliche außer Acht gelassen?

Wer sich die Situation im deutschen Berufsboxen in den zurückliegenden drei, vier Jahren anschaut und unvoreingenommen analysiert , kommt nicht umhin, den Marketingleuten in vielem Recht zu geben. Ja, es geht bergab mit dem deutschen Faustkampf. International und auf nationaler Ebene ebenso. Das Magazin „Boxsport“ fragte dieser Tage denn auch besorgt: „Wer rettet das deutsche Boxen?“ Noch weiter geht „Der Spiegel“, der dem Zweikampf im Ring sogar bescheinigt, er sei „zu einer Freakshow verkommen“.

Gewiss, da schießt das Nachrichtenmagazin aus Hamburg übers Ziel hinaus, weil es zu seiner Bewertung vor allem spektakuläre Aussetzer der Sportart heranzieht. Die zweifellos vorhanden sind und unübersehbar zunehmen. Beispiel: Der ominöse Weltmeisterschaftskampf am zurückliegenden Wochenende zwischen dem Deutsch-Libanesen Manuel Charr und dem Russen Alexander Ustinow. Es fördert die Glaubwürdigkeit nicht gerade, wenn bei einem WM-Fight in einer Ecke ein Kämpfer (Charr) steht, der bei einem mysteriösen Attentat vor zwei Jahren in Essen von mehreren Kugeln niedergestreckt wurde, mit zwei künstlichen Hüftgelenken ausgestattet ist und seit langer Zeit überhaupt keinen Wettkampf bestritten hat. Die Quote im frei zugänglichen Sky-TV lag bei enttäuschenden 280.000 Zuschauern, obwohl der Sender auf eine Bezahlschranke verzichtete.

Da fällt es natürlich leicht, wieder die lausigen Zeiten des deutschen Profi-Faustkampfs heraufdämmern zu sehen, als der sich noch im Dunstkreis des Rotlicht-Milieus bewegte. Als Unterweltgrößen am Ring flanierten. Als Kämpfe abgesprochen wurden. Erst die Generation um die beiden Ex-DDR-Stars Henry Maske und Axel Schulz machte in den neunziger Jahren das Preisboxen in der Bundesrepublik wieder salonfähig. Das Fernsehen befeuerte den Boom  kräftig, pumpte Millionen in den Markt, wurde so selbst zu einer Art verkappter Veranstalter. Rekordquoten suggerierten zudem: Das Ding läuft, alles paletti. Es waren jene für die Branche goldenen Zeiten, als nahezu alle zwei, drei Wochen der späte Samstagabend bei ARD und  ZDF im Zeichen des Faustkampfes stand.

Auch Magdeburg profitierte von diesem Boxboom. Verbunden ist das mit einem Namen: Sven Ottke. Als sich der Kölner Privatsender RTL nach langen Diskussionen 1999 dazu überreden ließ, endlich einmal im Osten zu veranstalten, ahnten die Sender-Verantwortlichen nicht, welchen Hype sie da auslösten. Ottke, der IBF-Weltmeister im Supermittelgewicht, war in aller Munde. Zwischen der Stadt und dem Athleten – das war Liebe auf den ersten Blick. Seine Kämpfe waren binnen Tagen ausverkauft. Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt, wo 2001 auch der erste ostdeutsche Profiboxstall (SES) aus der Taufe gehoben wurde, zählte fortan zu den Hochburgen dieser Kampfsportart in der Bundesrepublik.

Aber der Abschwung kam schleichend. Das Niveau vieler Kämpfe ließ nach, die führenden Boxställe schirmten ihre Athleten immer mehr ab, ließen sie oft nur gegen Gegner ran, die klar unterlegen waren. Folge: Interesse und Quoten gingen spürbar zurück. Interessante Randnotiz: Selbst WM-Gefechte der Männer locken heute nur noch ein Drittel so viel Zuschauer vor die Schirme wie es einst Box-Championesse Regina Halmich mit ihren Auftritten schaffte.

In der Politik machte sich zudem Widerstand dagegen breit, dass öffentlich-rechtliche Sender jährlich mit zweistelligen Millionensummen aus Gebührengeldern das Profiboxen fütterten. Und irgendwann flog die edle Kunst der Selbstverteidigung aus dem Programm. Und ohne die TV-Schecks war der Marsch nach unten nur noch eine Frage der Zeit. Logische Konsequenz: Rein sportlich ging es – von einzelnen Ausnahmen wie den Fights der Klitschko-Brüder und der inzwischen fast schon legendären Vierer-Serie zwischen Arthur Abraham und SES-Mann Robert Stieglitz – mehr und mehr bergab. Der einst führende europäische Boxstall, das Hamburger Universum-Unternehmen, das zu seinen Glanzzeiten drei bis vier Dutzend Profis aus aller Herren Länder unter Vertrag hatte,  ging gleich völlig pleite. Inzwischen ist es nicht mehr wegzudiskutieren, dass die einst in Europa führende Boxnation Deutschland derzeit tatsächlich nur noch einen Weltmeister in ihren Reihen weiß: den Berliner Supermittelgewichtler Tyron Zeuge. Und das trotz einer von den Weltverbänden bewusst herausbeschworenen wahren Titel-Schwemme. Allein bei den führenden vier Verbänden (WBC, WBA, WBO und IBF) sind es gut und gern 50 WM-Gürtel, die wohlfeil offeriert werden. Ein Lichtblick hierzulande ist noch der ehemalige Champion Jürgen Brähmer, der sich im neugeschaffenen Muhammad-Ali-Turnier ins Halbfinale durchschlug. Sein Nachteil: Er ist bereits 38 Jahre alt. Ex-Weltmeister wie Jack Culcay, Arthur Abraham und Marko Huck befinden sich hingegen auf absteigendem Ast.

Noch lässt sich die Frage, wohin das deutsche Boxen treibt, nicht endgültig beantworten. Das Potenzial, an der Spitze mitzumischen, besitzen einige durchaus, darunter die Magdeburger SES-Kämpfer Agit Kabayel (Europameister im Schwergewicht), Dominic Bösel und Tom Schwarz. Kultfigur Axel Schulz ist überzeugt, das Potenzial in Deutschland sei immer noch da: „Was wir brauchen, ist eine Rakete, die richtig durchstartet.“

Unübersehbar ist jedoch ebenso: Ohne das (regelmäßige) Geld großer TV-Anstalten wird es für jeden Veranstalter in Zukunft unheimlich schwer, ganz oben mitzuhalten. Weil planbare Einnahmen fehlen. Derzeit ist Preisboxen, eigentlich eine ideale Fernsehsportart, regelmäßig nur noch beim MDR (mit SES Magdeburg) frei empfangbar zu sehen. Ab 2018 kommt der Spartensender Sport1 hinzu, der Kämpfe des Sauerland-Stalls übertragen wird. Der Sport1-Marktanteil lag 2016 lediglich bei 0,9 Prozent. Dass so zumindest TV-seitig ein erhoffter Durchbruch gelingt, ist kaum mehr als eine vage Hoffnung. Rudi Bartlitz

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