„Wie ein trojanischer Krieger“

Mit dem Fury-Kampf in Las Vegas ist dem Magdeburger Promoter Ulf Steinforth (hier zusammen mit seinem Schwergewichtler Tom Schwarz) ein großer Coup gelungen. Foto: Peter Gercke

Der Magdeburger Schwergewichts-Boxer Tom Schwarz steht am 15. Juni im Spielerparadies Las Vegas gegen Ex-Weltmeister Tyson Fury vor dem Kampf seines Lebens.

Es war der 28. Juni 2013, als bei einer Box-Gala im einstigen Hallenser Maritim-Hotel ein bis dato völlig unbekannter junger Bursche aufkreuzte. Schon wie er sich vor dem ersten Gong im Ring gab, tänzelnd und lächelnd, ließ Beobachter konstatieren: An Selbstbewusstsein zumindest mangelt es dem nicht. Und siehe da, oha, boxen konnte er auch noch. Der Gegner, ein gewisser Mario Schmidt, erlebte die zweite Runde gar nicht mehr. Der Name des neuen Haudraufs: Tom Schwarz.

Den damals noch 18-jährigen Hallenser Schwergewichtler kannte vorher niemand, von einer Handvoll Fachleute einmal abgesehen. Das sollte sich bald ändern. Schwarz, eine Entdeckung von SES-Trainer Dirk Dzemski, putzte die Kontrahenten weg, wie sie kamen. Einige fielen wie Bahnschranken. „Wenn der zuhaut“, merkte ein Sportblatt an, „ist es, als ob dich ein Mühlstein trifft“. Es war der Start einer beeindruckenden Serie: In 24 Kämpfen blieb er bis heute unbezwungen, 16 endeten vorzeitig. „Der Junge hat was“, schwor damals schon SES-Chef Ulf Steinforth.

Es ging steil bergauf. Sieg reihte sich an Sieg. Viele durch knock-out. Und dennoch: Der bisher wohl überzeugendste Fight von Schwarz liegt mittlerweile schon mehr als drei Jahre zurück. Da musste er, wahrscheinlich das einzige Mal in seiner Karriere, an Grenzen gehen. Der Deutsch-Russe Ilja Mezencev erwies sich in Dessau beim Fight um die Junioren-Weltmeisterschaft als ein überaus dickes Brett. In Runde sieben schoss der Modellathlet aus Sachsen-Anhalt in einem von Dramatik und hoher Intensität gezeichneten Duell seinen Kontrahenten dann regelrecht aus dem Ring. Mit dem Magdeburger war ein neuer Star der Boxszene geboren, zumindest der deutschen.

Doch irgendwann türmte sich eine unerwartete Hürde auf dem weiteren Weg nach oben auf: Von den späteren Gegnern konnte keiner mehr höheren Ansprüchen genügen. Einige waren nicht mehr als Journeymen, wie sie in der Boxersprache genannt werden. Gekommen, um zu verlieren. Manche hatten zwar lockere Sprüchen auf den Lippen und wollten die Welt aus den Angeln heben, zogen anschließend, schwer verprügelt, umso kleinlauter wieder von dannen.

Das Unerfreuliche an der Sache: Die Karriere von Schwarz schien irgendwie festzustecken. Mit diesem Gefühl, unterfordert zu sein, kam er offenbar recht schwer klar. Leichte Siege, die zwar die Bilanz aufhübschten, halfen kaum weiter. Gewiss, Promoter Steinforth verwies immer wieder darauf, der Rohdiamant solle langsam und behutsam geschliffen werden: „Mit Tom haben wir viel Zeit.“ Bei seinen ungefährdeten Erfolgen übersah der junge Mann aber offenbar, wie und gegen wen sie zustande kamen. Jedenfalls fiel er fortan eher durch lockere Sprüche auf, die oft an der Realität vorbeischossen. Tönte, ihn stoppe niemand, in drei, vier Jahren sei er ohnehin Weltmeister. In jene Zeit fallen auch zwei Trainerwechsel. Als Chefcoach Dzemski wegen einer Handoperation auszufallen drohte, wurde extra für den Senkrechtstarter die DDR-Faustkampf-Ikone Uli Kaden verpflichtet. Mit ihm überwarf sich Schwarz schnell und statt einer Rückkehr zu Dzemski steht nunmehr der einstige „Co.“ Rene Friese in der Ecke.

Trotzdem, jetzt, im Spätfrühling 2019, scheint Schwarz da, wo er, glaubt man seinen Worten, schon immer hin wollte: auf dem Gipfel. Oder zumindest kurz davor. Als ihn Steinforth im März fragte, ob er denn Lust hätte, einmal in Las Vegas boxen zu wollen, traute der 24-Jährige kaum seinen Ohren. Noch weniger, als ihm der Promoter tags darauf den Namen des Gegenübers verriet: Tyson Fury, der englische Champ, der 2015 mit seinem sensationellen Erfolg über den zuvor elf Jahre ungeschlagenen Wladimir Klitschko die Faustkampf-Welt schier aus den Angeln gehoben hatte.

Für Schwarz ist die Welt seit diesen März-Tagen nicht mehr dieselbe wie vorher. „Seit fast drei Monaten“, erzählt er bei einem Treff mit MAGDEBURG KOMPAKT, „habe ich nur einen Namen im Kopf, den von Tyson Fury. Früh, mittags, abends.“ Der 1,97-Meter-Mann aus Magdeburg kennt nur noch ein Ziel: der Fight am 15. Juni im mondänen MGM Grand Garden Hotel von Las Vegas, mit 5.044 Zimmern, davon 751 Suiten, die drittgrößte Edel-Herberge der Welt. Der 15.000 Besucher fassende Festsaal erlebte schon viele erstklassige, teils historische Box-Schlachten. Dort durch die Seile zu klettern, dafür hat sich der SES-Himmelstürmer zuletzt zehn Wochen lang geschunden, hat in den bayerischen Bergen, in Neukirchen beim Heiligen Blut, ein Vorbereitungsprogramm heruntergespult wie noch nie in seinem Leben. „Dreimal täglich haben wir trainiert, ohne Pardon.“ Promoter Steinforth ließ dazu extra noch einen Coach aus den USA einfliegen. Robert Norris, ein in Las Vegas lebender Kubaner, soll Schwarz mit den Riten, Regeln - und Risiken! - der US-Boxwelt vertraut machen.

Schon als Schwarz am 29. Mai 1994 in Halle zur Welt kam, deutete sich an, dass da ein ziemlich strammer Junge heranwachsen könnte. „Tom wog bei der Geburt 4.095 Gramm und war 54 Zentimeter groß“, berichtet Mutter Daniela. Der Umfang seiner Brust und seines Bizeps aus jenen Tagen ist leider nicht überliefert … Doch wie es so spielt im modernen Leben: Klein-Tom hockte in Naundorf, einem kleinen Ort nördlich von Halle, als Kind meist zu Hause, von Herumtoben oder gar Sport hielt er nicht allzu viel. Und wenn sich mal tatsächlich etwas Sportliches anbot, wollte kein Trainer den kleinen Dicken so recht haben.

Das änderte sich erst, als er, nach vielem guten Zureden der Mutter, zu Dittmar Dzemski, dem Vater seines späteren Proficoachs, in die Boxgruppe nach Görzig kam. Sein Talent zeigte sich schnell. Die weiteren Stationen im Zeitraffer: Sportschule in Halle, Juniorenmeister, mit 19 Jahren Profivertrag bei SES Magdeburg. „Mein Ziel Olympia musste ich aufgeben“, meint er, „weil mich die Trainer damals nicht wollten.“ Sie sind nicht die einzigen, auf die Schwarz bis heute nicht gut zu sprechen ist. „Dazu gehört ein Teil seiner ehemaligen Schulkameraden, die mich früher hänselten und demütigten. Und verprügelten.“ Man spürt, diese Wunden brennen noch immer tief in ihm. „Sie hassen mich immer noch“, sagt er mit zusammengekniffenen Lippen. „Weil ich es im Sport geschafft habe – und sie nicht.“

Das Boxen hat Tom Schwarz, der mit drei Jahren bei einem Verkehrsunfall auf tragische Weise seinen Vater verlor, regelrecht umgekrempelt. Radikal, von Grund auf. „Früher habe ich gezittert, wenn ich nur vor der Schulklasse reden sollte“, erzählt er. „Schon bevor mein Name genannt wurde, bekam ich Schweißausbrüche.“ Was seither mit seiner Person vor sich gegangen sei, bezeichnet er dieser Tage als „unvorstellbar“. Berührungsängste kennt er nicht, lo-ckere Sprüche sind stets zur Hand. Heute ist er ein Show-Man, ein Sunnyboy („Ich bin ein lustiger Typ und lache unheimlich gern“). Er genießt das Bad in der Menge, einen für andere äußerst gewöhnungsbedürftigen, mit riesigen Blumenmotiven bedruckten Jogging-Anzug trägt er, als wäre es die normalste Sache der Welt.

Wenn man dieser Tage mit Schwarz zusammensitzt, fällt eines sofort auf: Kommt die Rede auf den Fury-Kampf, ist der SES-Athlet kaum wiederzukennen. Keine großen, unbedachten Sprüche mehr wie einst. Stattdessen Respekt vor dem Gegner. Außerdem sei er „reifer“ geworden. Ein Schmunzeln kann er sich bei diesem Satz jedoch nicht verkneifen. „Ich freue mich unglaublich auf diesen Kampf“, sagt er noch. „Das wird die bisher größte Herausforderung meines Lebens – aber ehrlich: Was habe ich denn schon zu verlieren?“ Auf die Frage, welche Stärken und Schwächen er bei Fury denn ausgemacht habe, hätte er noch vor einem halben Jahr diverse Dinge ungebremst heruntergerasselt. Heute lächelt er nur: „Kein Kommentar.“ Dass er den Engländer „derzeit für den besten Schwergewichtler der Welt“ hält, dazu ringt er sich auf Nachfragen noch durch. Und: „Er ist sehr kompliziert zu boxen. Eigentlich kann man gegen ihn gar nicht boxen, gegen ihn muss man fighten.“

Fighten ist auch das Stichwort für Axel Schulz. Schulz, jener deutsche Schwergewichtler, der 1995 ebenfalls in Las Vegas als krasser Außenseiter gegen George Foreman einen sogenannten Jahrhundertkampf ablieferte und durch ein Fehlurteil verlor. „Er muss kämpfen, kämpfen, kämpfen“, meinte der 50-jährige Geschäftsmann im Gespräch mit dieser Zeitung. „Wenn er gewinnen will, braucht er den k.o. Aber dass er Fury umhaut, würde an Wahnsinn grenzen.“ Nachdrücklich warnt Schulz vor einem frühen Aus: „Geht Tom gegen Fury in Runde eins oder zwei zu Boden, ist seine Karriere vorbei. Aber steht er lange, kann sich gut verkaufen, dann hat er auch mit einer Niederlage eine Zukunft. Tom ist jung, gerät jetzt zum ersten Mal richtig unter Druck. Man muss warten, wie er damit umgeht.“

Zumal in der anderen Ringecke eben nicht, wie bisher meist, ein „No Name“ steht. Für viele Experten ist Fury (30), selbst wenn er zurzeit keinen anerkannten WM-Titel mehr trägt, der beste Schwergewichtler der Welt. Nachdem er Klitschko besiegt und sich zum Weltmeister gekrönt hatte, fiel er in ein tiefes Loch. Schlagzeilen über Feier-Exzesse und Drogen (Kokain) machten die Runde. Fury wurde gesperrt, erklärte dann seinen Rücktritt, verlor, wie der „Spiegel“ schrieb, „Fokus und Orientierung im Leben, trainierte nicht mehr, nahm stark zu und wog zwischenzeitlich mehr als 180 Kilogramm“. Später sprach er öffentlich über Depressionen und Suizidgedanken. Genie und Wahnsinn lagen eng beieinander.

Wiederholt hatte Fury, der stolz den Kampfnamen „Gypsy King“ führt, vor seinem Absturz geklagt, dass ihm in England nicht genug Respekt entgegengebracht werde. Die Briten würden einem „Gypsy" den Erfolg nicht gönnen. Er entstammt einer Sippe mit Ursprung bei den „Irish Travellers", einer Roma-ähnlichen Volksgruppe mit eigenem Rechts- und Moralverständnis. Seine Unzufriedenheit, gepaart mit den Millioneneinnahmen und dem Gefühl der Unbesiegbarkeit, gipfelte in der dunkelsten Phase in Furys Leben. Ein geplanter Rückkampf gegen Klitschko 2016 platzte.

Wer Fury heute erlebt, mag vieles von dem, was in der Vergangenheit passierte, nicht glauben wollen. Der Brite erscheint körperlich – und geistig! – fit wie selten zuvor. Er sei der beste Entertainer in der Boxwelt, versichern Experten. Mit einem Vertrag mit dem US-Sender ESPN über fünf Fights in der Tasche (die ihm zusammen 91 Millionen Euro einbringen sollen), will er noch einmal durchstarten. Gerade im Boxland Nummer eins, den USA. Erster Gegner auf diesem Weg: Tom Schwarz.

Wer nun allerdings glaubt, Fury würde das Gefecht in Las Vegas im Wissen um seine Überlegenheit lax oder gar überheblich angehen, irrt. „Schwarz ist jung, unbesiegt, groß. Er ist ein gefährlicher hungriger Löwe. Er wird mehr Stolz und Willen mit in den Ring bringen als viele andere dieser Tage hochgehandelte Boxer“, erklärte er in einem Interview für den britischen TV-Sender BT. „Für den Kampf gegen ihn trainiere ich wie ein trojanischer Krieger. Es war Klitschkos Fehler, dass er mich damals unterschätzt hat. Mit Schwarz passiert mir das nicht.“ Und nicht nur das: Er kennt alle Daten seines deutschen Gegners aus dem Effeff, weiß aus dem Stehgreif, welche Rangings der Magdeburger in den einzelnen Weltverbänden hat. Ein ziemlich hohes Zeichen der Wertschätzung. „Es wird ein heißes Gefecht“, prophezeit Fury. „Hoffentlich haben sie eine ordentliche Klimaanlage.“ Rudi Bartlitz

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