„Wenn nicht jetzt – wann dann?“

Bei der Heimweltmeisterschaft wollte sich der deutsche Handball wieder in der Weltspitze etablieren – und der Sportart sollte ein neuer Kick verliehen werden. Was ist davon geblieben?

Es erinnerte ein wenig ans berühmte Murphys Gesetz: Just in dem Moment, als die bis dahin prächtig aufspielenden deutschen Handballer nachweisen wollten, dass selbst WM-Gold für sie keine ferne Utopie sein muss, ausgerechnet da lief einiges schief.  Und das gleich zweimal – im Halbfinale und in der Partie um Bronze. Doppelt schade, da es nicht nur um den Nachweis ging, wieder den Anschluss an die Weltspitze geschafft zu haben (was mit Rang vier zwar durchaus gelang), sondern Werbung für die Sportart schlechthin zu betreiben, ein Land zu begeistern.

Ja, diese Heim-WM schien wie geschaffen dafür, Handball auf ein neues Level zu hieven, ihn nicht nur für zwei Wochen im Jahr aus dem erdrückenden Schatten des Fußballs zu lösen; der im Januar ohnehin eine Winterpause einlegt. "Wir sind jetzt da, wo wir hinwollten. Wir wollen den Abstand zur Lieblingssportart verkürzen", frohlockte Bob Hanning, der Macher im deutschen Handballverband und so etwas wie ein Vordenker. Sein Team hatte mit couragiertem Auftreten eine ganze Nation vorübergehend in eine Art Rausch versetzt. Es gab Rekorde bei Zuschauerzahlen, der DHB freute sich über Gewinne. Erinnerungen an jenes glorreiche WM-Jahr 2007 lebten auf, als die Zeitungen schrieben, man sei Zeuge eines „Wintermärchens“ gewesen.

Zwar fehlten an den Autos noch die obligatorischen schwarz-rot-goldenen Fähnchen, aber in Berlin, Köln und Hamburg herrschte Ballyhoo wie am Ballermann. Bierzeltstimmung. ARD und ZDF servierten Handball live zur Primetime, Tagesschau und heute-Sendung adelten die Sportart mit der Aufnahme ins Nachrichten-Programm, gleich neben der großen Politik, zuweilen noch vor ihr. Beim Verband rieb man sich die Hände. Es läuft. Der Song der Kölner Karnevals-Band „Die Höhner“ von damals, aus dem WM-Jahr 2007, schien erneut das Motto herzugeben: „Wenn nicht jetzt – wann dann?"

Nachdem es vor einem Dutzend Jahren, als man im eigenen Land den goldenen WM-Pokal gewonnen hatte, nicht gelungen war, den Hype des Augenblicks in einen langfristigen Aufschwung überzuleiten, sollte es diesmal ein richtig großer Sprung werden. Über die Grenzen des Spielfelds, aus den Hallen hinaus – und mitten hinein in die Sport- und Konsumwelt der nächsten Generation, gerade in den Metropolen. Stimmig war das Szenario allemal. Nach der Russland-Pleite der Fußballer 2018 dürstete das Publikum geradezu nach einem kollektivem Erfolgstaumel. Egal, wie. Die WM der Ballwerfer kam da gerade recht.

Der deutsche Handball sah sich noch auf einer anderen Mission bei diesem Championat. Und die lautet: hip werden. Die Ausgangslage war klar umschrieben. Fußball ist, wie Hanning befand, Galaxien entfernt, Und dann? Dann kommt in den Augen einiger längst der Basketball, selbst wenn Mitgliederzahlen und statistische Erhebungen etwas anderes besagen. Mit 757.000 Mitgliedern im DHB im Jahr 2018 ist Handball der beliebteste Mannschaftssport hinter Fußball (über sieben Millionen Mitglieder), davon können die Basketballer (208.400) oder Volleyballer (416.400) nur träumen. Weltweit gibt es kein Land, in dem mehr Menschen organisiert Handball spielen als in Deutschland. Dennoch: Basketball mit seiner engen Bindung an den   Sport-Trendsetter USA, seiner, anders als der Handball, weltweiten Verbreitung und seiner stylischen Art gilt als hochattraktiv für ein junges Publikum und zwar quer durch alle Schichten und Nationalitäten. Der Handball, merkte dieser Tage die „Frankfurter Allgemeine“ an, diese immer noch traditionell angehauchte, in der deutschen Regionalität verwurzelte Sportart, drohe in einen Mahlstrom zu geraten. Selbst wenn an vielen Standorten alles ganz organisch und gesund aussehe. „In der Nische lebt der Handball gut.“ Das aber soll nun nicht mehr genügen, deshalb der Sprung in die Metropolen, die größten Städte und Arenen.

Einen Trumpf – vor allem gegenüber dem Fußball - wollte der kleinere Bruder in den vergangenen Wochen vor allem ausspielen: seine Authentizität, seine Ehrlichkeit und Bodenständigkeit, seine Nähe zum Publikum. Und tatsächlich, viele, die mit dem Hallenspiel zuvor noch keine nähere Bekanntschaft gemacht hatten, waren fasziniert von seiner Schnelligkeit, seiner Dramatik und der Fairness. Riesige Muskelprotze, die sich 60 Minuten lang mit Ellbogen und Unterarmen nach allen Regeln der Kunst bearbeiten, um sich nach dem Abpfiff in die Arme zu fallen. Mehr klassischer Sportsgeist, so der „Spiegel“, geht kaum.
Ebenfalls nicht zu übersehen: Der Handball ist hierzulande auf höchster Ebene angekommen. Sogar die Kanzlerin, ansonsten eher als Kicker-Freundin bekannt, entdeckte ihre Liebe zum Zeitvertreib mit dem kleineren Ball. Sie meldete sich vorm Halbfinale in einem fünfminütigen Telefongespräch persönlich bei Bundestrainer Christian Prokop, ehe sie tags darauf noch einen öffentlichen Gruß per Video hinterherschickte. „Sie haben uns in all den Spielen verzückt mit ihren schnellen Spielzügen, aber auch mit ihrer Kraft und ihrem Zusammenhalt, und das hat sie weit gebracht“, sagte Merkel. Selbst der protokollarisch eine Stufe über ihr stehende Bundespräsident, samt Ehefrau zum Halbfinale nach Hamburg geeilt, outete sich als Fan. Und als Handball-Kenner obendrein, was ihm vom ARD-Reporter prompt die Einladung einbrachte, sich doch künftig einmal als Experte vor der Kamera zu versuchen. Was jetzt noch fehle, räumte DHB-Vorstandschef Mark Schober während der WM offen ein, sei die digitale Ausrichtung. Soll heißen, die Möglichkeit  für ein junges, eben hippes Publikum, sich via Video-Games und diverser anderer Spielmittel der Welt des Handballs zu nähern. Im Gegensatz zu vielen Mannschaftssportarten hat Handball nämlich ein Manko: In der elektronischen Welt ist er noch nicht angekommen, trotz einiger Versuche. Beim boomenden E-Sports herrscht völlig Ebbe. Zumindest auf den größeren Schirmen ist ein wenig Besserung in Sicht: Die öffentlich-rechtlichen Anstalten sicherten sich längerfristig die Rechte an WM und EM. Dass sie auch national einiges tun, damit das schnelle Spiel mit dem kleinen Ball nicht nach der Weltmeisterschaft wieder fast völlig von der Bildfläche verschwindet, ist eine Hoffnung, die nicht nur die Manager der Handball-Bundesligisten hegen.

Auch um den Nachwuchs muss sich der Verband sorgen, denn so positiv die Mitgliederzahlen im Vergleich zu den meisten anderen Sportarten auch sind: Der WM-Titel 2007 hat zwar zwei Jahre lang für einen Anstieg gesorgt, die plötzlich auch Handball spielen wollten, doch schon 2009 ging es rapide bergab. Der Hype verflog, die Namen der Weltmeis-ter waren im breiten Publikum schnell wieder vergessen, kein Star geboren. Genau da wollen Verband und Vordenker Hanning nun ansetzen. In einer vom Showsport geprägten Welt brauche der deutsche Handball, wie auch Ex-Nationalspieler Stefan Kretzschmar fordert, „Typen“.  Spieler kurzum, auf die das Publikum neugierig ist und zu denen ihm mehr einfällt als deren Verein und Rückennummer.

Eine Gefahr, die dem Handball langfristig drohen könnte, wurde während der WM zwar nicht auf großer Bühne erörtert, war in Hintergrundgesprächen jedoch latent:  Sollte er sich nicht nachhaltig globalisieren und in Schlüsselmärkten wie den Vereinigten Staaten und China etablieren, stehe irgendwann sogar der wichtige Status als olympische Sportart auf dem Spiel. „Es ist nun einmal ein Fakt, dass zwei Drittel aller olympischen Sponsoren aus dem amerikanischen Markt kommen“, sagte Gerd Butzeck, der als Geschäftsführer des Forum Club Handball (FCH) die Interessen der europäischen Spitzenklubs vertritt, der „FAZ“. „Wenn wir es nicht schaffen, den Handball in den Vereinigten Staaten oder China zu entwickeln, dann werden diese Sponsoren irgendwann fragen: Wieso eigentlich Handball?“ Zumal in einer Zeit, da das IOC auf Grund der mit Macht ins olympische Programm drängenden Trendsportarten nur noch wenige Disziplinen für ewige Zeiten als sacrosankt zu erklären bereit ist. Der Handball, so scheint es, dürfte bei der jetzigen Kräfteverteilung nicht unbedingt dazugehören. Rudi Bartlitz

Die zweite Chance

Wer damals, vor knapp einem Jahrzehnt, in der alten Gieselerhalle bei Pressekonferenzen der SCM-Youngsters deren Trainer Christian Prokop aufmerksam zuhörte, bekam es ziemlich schnell mit: Da ist einer, der den Handball als Strategie-Spiel versteht. Einer, der mit gerade einmal 30 sein Fach schon aus dem Effeff beherrscht. Die Grün-Roten, damals selbst auf dem Weg aus einem tiefen Tal, trauten dem Mann mit dem spitzbübischen Lächeln offenbar noch nicht zu, in der Bundesliga erfolgreiche Schlachten zu schlagen. Prokop zog nach zwei Jahren weiter. Heute, als Bundestrainer, gilt der mittlerweile 40-Jährige als wichtigster Architekt für den, trotz des Halbfinal-Aus, phänomenalen deutschen Handball-Januar 2019. Mit 23, einem Alter, bei dem für andere die Karriere als Spieler erst so richtig Fahrt aufnimmt, war sie für Prokop bereits jäh beendet. Eine schwere Knieverletzung stoppte den gebürtigen Köthener. Da half es auch nichts, dass er sich zu einem radikalen Schritt entschied. Um weiter Handball betreiben zu können, wechselte der Bundesliga-Spieler (Wuppertal, Minden) nicht nur Wurfarm (von rechts auf links) und Sprungbein, er ließ sich operativ sogar einen Oberschenkel durchtrennen, um eine Achskorrektur zu erreichen: vom X- zum O-Bein. Am Ende nütze auch das nichts.

Doch vom Handball konnte (und wollte) der Lehramtsstudent nicht lassen. Also Trainer. Das Talent des Sachsen-Anhalters blieb den Managern höherklassiger Klubs nicht lange verborgen. Im Eiltempo ging es bergauf. Die erste Bundesliga-Erfahrung mit TuSEM Essen endete dennoch unerfreulich: mit dem Abstieg. Mit seiner folgenden Arbeit beim SC DHfK Leipzig machte er die Fachwelt jedoch nachhaltig auf sich aufmerksam. 2017 wurde er zum „Trainer des Jahres“ gekürt. Im selben Jahr berief der Verband, zur Überraschung eines Großteils der Fachwelt, Prokop zum Bundestrainer. Für noch mehr Verblüffung sorgte die Vertragslaufzeit: fünf Jahre! Ebenso ungewöhnlich: An die Leipziger musste der DHB sogar eine Ablöse zahlen.

Eine Nationalmannschaft ist etwas anderes als ein Klub. Hier gelten andere Regeln. Hier ist einfach nicht die Zeit, seine eigenen Vorstellungen vom Handball, was Spielsysteme und Taktik betrifft, zu oktroyieren. Diese bittere Erfahrung musste der junge Bundestrainer schnell machen.  Er wollte zu viel auf einmal, seine Spielphilosophie mit Macht durchdrücken. Bei der EM 2018, Prokops erstem großen internationalen Turnier, hagelte es für den Titelverteidiger einen enttäuschenden neunten Rang. Die Spieler fühlten sich überfordert, angesehene Akteure probten vor und hinter den Kulissen den Aufstand. Der Trainer stand vor dem Aus.

Was danach passierte, besaß in einer immer mehr von Rigorosität geprägten Sportwelt schon Ausnahmequalität: Prokop durfte bleiben, wenn auch erst nach einer Kampfabstimmung im DHB-Präsidium. Er wusste, eine dritte Chance würde er nicht bekommen. Doch er hatte offensichtlich seine Lektion gelernt.  Als er seine Akteure in der Auszeit der WM-Partien tatsächlich fragte: „Was wollt ihr spielen?“, traute man zunächst seinen Ohren nicht. Der oberste Handballlehrer der Republik zeigte sich kommunikativ, suchte den Kontakt zu Spielern und Klubs, wandelte seine Ansprüche. Und siehe da, plötzlich stand da auf dem Parkett eine Einheit. Es wirkte fast wie ein didaktisches Lehrstück, das sagen wollte: Nicht immer muss der scheinbar einfachste Weg, nämlich die Trainerentlassung, der wirklich beste sein. Rudi Bartlitz

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