Von Rosen und Titeln

Mit Wucht werfen sich die SCM-Spieler (v.l.: Green, Schmidt und Chrapkowski) dem Balinger Angriff entgegen. Nach einem 38:26 über den Aufsteiger sind die Grün-Roten erster Tabellenführer der neuen Saison – vor dem THW Kiel. Foto: Peter Gercke

Der 7. September ist im Terminkalender der Magdeburger Fans seit Langem ganz dick und tiefrot markiert. Dann kommt es in der Getec-Arena zu einem der ersten großen Ballyhoos der noch jungen Saison, zu einem Klassiker des deutschen Handballs schlechthin. Der SC Magdeburg empfängt Rekordmeister THW Kiel. In der zurückliegenden Saison hatten die Sachsen-Anhalter überraschend beide Spiele gewonnen. Die Partie wird live in der ARD ausgestrahlt. „Ich kann mich nicht erinnern“, sagt Geschäftsführer Marc Schmedt, „dass schon einmal eine Begegnung des SCM in voller Länge im Ersten übertragen worden wäre.“

Und nicht nur das: Just am selben Tag feiert eine Ikone des schnellen Spiels mit dem kleinen Ball seinen 60. Geburtstag. Ein Mann, der 2002 den SCM zum ersten Champions-League-Triumph eines deutschen Vereins überhaupt führte und der im Juni an der Kieler Förde seine Laufbahn als Klubtrainer beendete. Nach elf glanzvollen Jahren beim THW, nach zwei Champions-League-Siegen und sechs deutschen Meisterschaften dort. Ein Mann, der schon zu Lebzeiten in beiden Städten Legenden-Status erworben hat:  Alfred Gislason. „Der Sieg mit dem SCM 2002 ist einfach mein größter Erfolg“, erklärte er wiederholt. „Ich bin unglaublich stolz darauf.“

Beim Liga-Showdown seiner beiden Ex-Vereine wird der Isländer – der nach dem Abschied aus Kiel seinen Wohnsitz endgültig nach Sachsen-Anhalt verlegt hat, wo er in Wendgräben seit Langem ein altes Bauernhaus besitzt – nicht auf der Tribüne sitzen. Er hält sich, so erfuhr diese Zeitung von Freunden, zu diesem Zeitpunkt in Spanien auf. Das bestätigte auch der SCM. „Er wird, so sagte er uns, nicht beim Spiel sein können. Aber Alfred ist uns jederzeit herzlich willkommen“, erklärte Schmedt. Typisch Gislason. Großem Rummel versucht der – sieht man einmal von seinem impulsiven Agieren an der Seitenlinie ab – stille Mann aus Akureyri, so er nur kann, aus dem Weg zu gehen.

Die Ruhe, die er sucht, findet der Trainer, der, wie er sagt, sein „ganzes Leben nur Handball gemacht hat", in der Idylle von Wendgräben auf jeden Fall. „Hier ist es so schön still.“ Das kleine Dorf, 38 Kilometer östlich der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt gelegen, soll so etwas wie die „zentrale Lebensgrundlage“ für die Familie sein. Seit er das um 1840 erbaute Anwesen während seiner Magdeburger Zeit (1999 bis 2006) für sich entdeckte, werkelt er dort in jeder freien Minute – unermüdlich: „Wir haben eine komplette Ruine übernommen, aus dem Dach wuchsen die Bäume heraus. Man hat meine Frau und mich für irre erklärt, dass wir das gemacht haben.“

Heute ist es ein Schmuckkästchen. Vielleicht einziger Luxus: der Pool draußen im Garten zu dem vier Stufen hinaufführen. „So richtig mit Gegenstromanlage“, schwärmte er, als ihn unlängst ein TV-Team besuchte. „Das ist geil, da kannst du nachts mit Mineralwasser sitzen und in den Himmel gu-cken.“ Über die Formulierung mit dem Mineralwasser freut er sich – und muss selbst lachen. Besonderer Stolz ist der hinter dem Haus gelegene riesige Rosengarten. „Etwa 500 Sorten wachsen derzeit hier“, berichtet der studierte Historiker, den Freunde nur „Alli“ nennen. „Es ist eine Manie von mir – wenn ich etwas anfange, will ich alles darüber wissen.“ So hat es der 190-fache isländische Nationalspieler inzwischen zum Rosen-Experten und Hobby-Züchter der edlen Ziergewächse gebracht.

Der nebenan gelegene Obstgarten hat es ihm genauso angetan. „Brennwiese“, nennt er ihn scherzhaft. Denn viele seiner Gewächse, meint er, forderten zum Schnapsbrennen geradezu heraus. „Da sind ein paar ganz seltene Sorten drunter. Wenn ich die Lizenz bekomme“, schmunzelt er, „sattle ich vielleicht um zum Brennmeister“.  Möglicherweise kommen dann ja bald aus einer Gislasonschen Destille in Wendgräben ein guter Himbeergeist, ein würziger Marillenschnaps oder ein gediegener Calvados ... Der Isländer erscheint schier rastlos in seinem Natur-Paradies: Rosen und Obst genügen längst nicht mehr. Seit einiger Zeit baut er Getreide an und interessiert sich für die Imkerei. „Das mit den Bienen werde ich ganz sicher noch machen. Das ist spannend.“ Seine tiefe Liebe zur Natur und zu landwirtschaftlicher Arbeit generell erklärt Gislason unter anderem damit, dass in seiner Heimat Island „außer Kartoffeln und Rhabarber ja eigentlich nichts wächst“.

Schöner Nebeneffekt: Zwischen all den Rosen, Obst und Getreide wandern die Gedanken immer weniger zum Handball. Und mit einem Tipp für die neue Meisterschaft hat den Trainer im (einstweiligen) Ruhestand, der den SCM schon in den vergangenen beiden Jahren stets mit auf der Titel-Rechnung hatte, diesmal auch niemand genervt. Aber dafür wurden andere um ihre Prognose gebeten. 13 der 18 Cheftrainer der Bundesligisten sehen in Gislasons Ex-Klub THW Kiel diesmal den klaren Favoriten auf den Titel. Dreimal wurde der Meister der vergangenen beiden Jahre, die SG Flensburg-Handewitt, genannt, je einmal die Rhein-Neckar Löwen und der SCM. Es ist ausgerechnet einer der früheren Coachs der Grün-Roten, der jetzt bei GWD Minden tätige Frank Carstens, der die Magdeburger in der Endabrechnung ganz oben erwartet. Weiß er etwa mehr?

Beim SCM selbst hat sich die Mannschaft, die erneut in drei Wettbewerben vertreten sein wird   (Meisterschaft, DHB-Pokal, EHF-Cup), einen Titel vorgenommen. Diese Vorgabe kam nicht von oben, sie wurde von den Spielern selbst so formuliert. In der vergangenen Saison scheiterte man am selben Ziel noch. Im internationalen Wettbewerb war die Enttäuschung besonders groß, als die Magdeburger frühzeitig gegen den FC Porto aus dem Wettbewerb flogen. Im nationalen Pokal wurde zwar das Finalturnier der besten Vier erreicht, doch dort kam dann im Halbfinale das Stoppzeichen. „Auch diesmal rechnen wir uns in den beiden Pokalwettbewerben die besten Chancen auf einen Titel aus“, erklärte Mannschaftskapitän Christian O’Sullivan bei der Eröffnungspressekonferenz.

In Sachen Bundesliga, wo der SCM 2019 einen ausgezeichneten dritten Platz – noch vor den mitfavorisierten Rhein-Neckar Löwen – belegt hatte,  blieb der Norweger ein wenig nebulös. Den Hut in den Ring werfen wollte er so richtig nicht. Das sei ein langer Wettbewerb, argumentierte er, da gebe es so viele gute Teams und viele Favoriten – und letztlich habe man es, im Gegensatz zum Pokal, nicht allein in der Hand. Irgendwie schien das alte Karl-Valentin-Zitat im Raum zu schweben: „Mögen täten wir ja schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.“

Dabei sind die Voraussetzungen an der Elbe diesmal besser denn je. Die Einkäufe scheinen gelungen. Ein halbes Dutzend Neulinge (darunter die deutschen Auswahlakteure Tim Hornke, Erik Schmidt und Moritz Preuss sowie der mazedonische Nationalspieler Filip Kuzmanovski) stehen Cheftrainer Bennet Wiegert zur Verfügung. So soll eine der, gegenüber den absoluten Top-Klubs, noch vorhandene Schwachstelle ausgemerzt werden: die fehlende Breite im Kader. Das gilt allerdings nicht für die Außenpositionen: Über ein derart hochkarätig besetztes Quartett wie Matthias Musche, Hornke, Lukas Mertens und Daniel Pettersson würden sich die Top-Teams die Hände reiben. Selbst Trainer Wiegert („Ich bin ein Freund hoher und konkreter Ziele“) sagt inzwischen: „Wir wollen das Maximale so lange es geht aufrechterhalten.“ Folgt man den meisten Experten, kommen für den Meistertitel allerhöchs-tens sechs Teams in Frage: SG Flensburg, THW Kiel, Rhein-Neckar Löwen, SC Magdeburg, MT Melsungen und die Füchse Berlin. Sky-Experte Stefan Kretzschmar geht sogar noch weiter: „Ich denke, die ers-ten Vier haben sich noch ein Stück vom Rest abgesetzt.“ 

Auch an der Wirtschaftsfront geht es beim SCM offenbar weiter bergauf, selbst wenn Geschäftsführer Schmedt traditionell nicht über Etat-Höhen reden mag. Da fehle einfach ein objektiver Maßstab, erklärt er, „kursieren zu viele abenteuerliche Zahlen“.  Seinen Worten zufolge rangiert der SCM, was die Finanzkraft angeht, in der Liga weiterhin zwischen den Positionen fünf und sechs. Der Abstand zu Top-Klubs wie Kiel, Flensburg, Mannheim und Melsungen sei seinen Erkenntnissen zufolge gegenüber der Vorsaison in etwa gleich geblieben. Er belaufe sich auf rund eine Million Euro.

Kein Geheimnis ist indes, dass die Zahl der Sponsoren weiter zugenommen hat. Auf etwa 30 Abgänge kämen 60 Neue, heißt es. Der Verkauf der Dauerkarten wurde bei 4.200 Tickets „eingefroren“ (Schmedt), um auch anderen Interessierten die Chance zu geben, bei einer Meisterschaftsbegegnung in der Getec-Arena dabei zu sein. Bei den TV-Zahlen nimmt der SCM in der Liga inzwischen den absoluten Spitzenrang ein, noch vor Kiel, Flensburg oder Berlin. Interessantes Detail am Rande: Eine Mannschaftsprämie für einen Titel wurde nicht ausgelobt. Prämien, so der Geschäftsführer, würden individuell mit jedem Spieler ausgehandelt. Das schließt allerdings nicht aus, dass sich Sponsoren bei einem Titelgewinn in Form einer Zahlung außer der Reihe erkenntlich zeigen. Wie KOMPAKT erfuhr, wäre dazu schon jetzt rund die Hälfte der Geldgeber bereit. Also kann das Motto für die Männer in Grün-Rot eigentlich nur lauten: einfach mal kräftig zugreifen. Rudi Bartlitz

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