Phänomen Heimsiege

FCM-Trainer Stefan Krämer. Foto: P. Gercke

Die Pressekonferenz vor dem Spiel gegen 1860 München nahm ihren gewohnten Verlauf: Informationen über Verletzungen, Gedankenspiele um Grundformationen, Gegner-Analyse. Bis FCM-Trainer Stefan Krämer sich zu einem ziemlich ungewöhnlichen Schritt entschloss. Mit viel Verve hielt er, coram publico, ein leidenschaftliches Plädoyer über Heimsiege. Sie gipfelten in der Aussage, es könne doch nicht sein, dass dieser mit Tradition so beladene Verein in den letzten 15 Monaten ganze zwei Mal als Gewinner die eigene Arena verlassen habe. Von Selbstbedienungsladen war die Rede, der wieder zu einer Festung werden müsse. Von der Verpflichtung der Mannschaft, dieses fantastische Publikum durch Erfolge „wieder stolz zu machen“.
 
Obwohl Krämer (seit Juli 2019 im Amt) die Durststrecke fehlender Heimerfolge am allerwenigsten selbst zu verantworten hat, warf er nach missratenem Drittliga-Start (der Absteiger rangierte als Mitfavorit nur auf Platz elf, zu Hause wurde ein mickriger Punkt geholt, schon in der ersten Pokalrunde kam daheim das Aus) die Brandfackel. Hätte der Appell, der den Spielern natürlich nicht verborgen blieb, nicht gefruchtet, der Coach hätte erst recht im Regen gestanden. Aber siehe da: Die Blau-Weißen rafften sich zu einem furiosen Sturmlauf auf, fegten die Bayern 5:1 aus dem Stadion.
 
Ist Krämer ein Zauberer? Wohl kaum. Ein gelungener Griff in die psychologische Trickkiste war es jedoch allemal. Aber was ist wirklich dran am Faszinosum Heimsieg? Er ist ein Phänomen, das zum Mannschaftssport gehört wie die Aufstellung und der Teamgeist, und der doch schwer zu fassen ist. Manche glauben an ihn, andere nicht. Sportwissenschaft und Statistiker arbeiten sich an diesem Thema seit Jahrzehnten ab. In unzähligen Analysen und Versuchen sind schier endlose Datenkolonnen gewonnen  worden. Interpretiert werden sie jedoch recht unterschiedlich. Wenn eine Tendenz zu erkennen ist, dann ließe sie sich grob so zusammenfassen: Ja, es gibt ihn, den Heimvorteil – und für viele Teams ist er weiter das A und O eines erfolgreichen Abschneidens. Das gilt mehr oder weniger quer durch alle Ligen.
 
Seit Einführung der Bundesliga 1963 etwa, so wurde herausgefunden, endeten mehr als 50 Prozent aller Partien mit einem Heimsieg – genauer gesagt 51,2 Prozent. Während sich Remis und Heimniederlage mit jeweils etwa 25 Prozent die Waage hielten. Wäre der FCM in der Saison 2018/19 nur annähernd an diesen 50-Prozent-Wert herangekommen wäre, kein Mensch hätte je über den Zweitliga-Abstieg gesprochen.
 
Aber, und darin sind sich die Wissenschaftler weitestgehend einig, insgesamt nimmt die Bedeutung des sogenannten Heimfaktors ab. Tendenziell jedenfalls. In den sechziger und siebziger Jahren lag die Quote von Heimsiegen in der Bundesliga noch bei über 55 Prozent. Laut Prof. Daniel Memmert von der Sporthochschule Köln liegt es vor allem daran, dass alles professioneller organisiert und medialer geworden ist. Es gibt so gut wie nichts Unberechenbares mehr. Ausgiebige Video-Analyse und Beobachtung durch Scouts tun ein Übriges. Der gläserne Fußball lässt grüßen. Die Fahrten (oder Flüge) zu den Partien werden immer angenehmer. Die Teams sind über alle Details (z. B. direkte Gegenspieler) bestens informiert. Und bei Wettbewerben mit Hin- und Rückspiel existiert der einst gerühmte Heimvorteil in der zweiten Partie überhaupt nicht mehr. Wissenschaftler der belgischen Ghent University fanden heraus, dass  Mannschaften, bei denen das Rückspiel im eigenen Stadion stattfand, die nächste Runde nur zu 48,8 Prozent erreichten.
 
In ihrer Ursachenforschung verweisen Experten immer wieder auf das Publikum: Anfeuerungsrufe verfehlen ihre Wirkung nicht. Sie putschen die Kicker der Heimmannschaft auf und schüchtern die gegnerischen Spieler ein. Das ist wissenschaftlich belegt: Mithilfe von Speicheltests konnten die britischen Forscher Nick Neave und Sandy Wolfson zeigen, dass Schlachtgesänge bei der Heimmannschaft einen Testosteronschub auslösen. Die Erklärung dafür ist evolutionsbiologischer Natur: „Testosteron ist bei Tieren mit Dominanz und mit Aggression verbunden“, so Neave in der Fachzeitschrift „New Scientist“. Er glaubt an eine Art Revierverhalten. „Wer zu Hause spielt, verteidigt in gewissem Sinne sein Territorium.“ Ein Indiz dafür: Bei Torhütern, die schließlich gleich zwei Territorien verteidigen müssen – ihre heimische Arena und ihr Tor –, war der gemessene Testosteron-Anstieg besonders hoch.
 
Zugleich kann eine zu hohe Erwartungshaltung des eigenen Publikums auch Fehler der Heimmannschaft auslösen. Spätestens hier kommt die von Krämer beklagte Heimschwäche des FCM ins Spiel. Wenn Mannschaft und Fans erfolgsverwöhnt sind (bei den Blau-Weißen gipfelten sie in der Drittliga-Relegation 2015 und dem Zweitliga-Aufstieg 2018) und Rückschläge drohen, könne der durch die Anfeuerungen ausgelöste positive Stress schnell in negativen Stress umschlagen, was dann wiederum zum Leistungsabfall führen könne, meint der Heidelberger Sportpsychologe Henning Plessner. „Natürlich spielt dabei auch die mediale Berichterstattung eine Rolle.“

Ganz deutlich zeigte sich dieser Effekt bei der WM 2014  in Brasilien. Das eigene Team, von den heimischen Medien und vom eigenen Trainer mit einer Art Titel-Zwang belegt, rumpelte durch das Turnier, bis es im Halbfinale spektakulär mit 1:7 gegen Deutschland unterging. Der Druck auf die Spieler war einfach zu groß gewesen – und hatte sie so sehr gehemmt, dass sie ihre wirkliche Leis-tungsfähigkeit nicht abrufen konnten. Oder nehmen wir den FC Bayern, der 2012 im sogenannten Finale dahoam in der Champions League als haushoher Favorit gegen Chelsea London unterlag. Mit Robben, Olic und Schweinsteiger versagten gleich drei Schützen am Elfmeterpunkt.
 
Manchmal kann Heimvorteil allerdings auch dem Gegner ungewollt einen Vorteil verschaffen. Denn ein Testosteronschub kann auch bei Spielern der Gastmannschaft ausgelöst werden – wenn ihnen zu viel Antipathie des Publikums entgegenschlägt. Ex- Nationalspieler Mario Basler hat es so auf den Punkt gebracht: „Kritik macht mich nur noch stärker. Wenn mich von 55.000 Zuschauern 50.000 hassen, mir am liebsten ein Bein abhacken würden, mich mit ,Arschloch‘ begrüßen, dann fühle ich mich wie Arnold Schwarzenegger gegen den Rest der Welt.“  Rudi Bartlitz

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