Derbys - zwischen Tradition und Legende

Typisch Derby: Magdeburgs Torjäger Christian Beck (l.) im Luftkampf mit Halles Maskenmann Matthias Fetsch. Foto: Holger Sieglitz

Im Land tobt ein Kampf um die Vorherrschaft im Fußball. Der FCM hat ihn vorerst für sich entschieden.
Bei einer Großchance des HFC in der Nachspielzeit sei ihm „für einen Augenblick das Herz stehen geblieben“, räumte FCM-Cheftrainer Jens Härtel später ein. Sein Präsident Peter Fechner gestand noch lange nach Spielschluss, er sei „fix und fertig, ich kann mich noch gar nicht richtig über den Sieg freuen. Da hilft jetzt nur ein Rum.“ Willkommen im Derbyland, wo der Fußball endgültig jenseits jeglicher Rationalität angekommen ist. Hier ist die Legendenbildung wichtiger als jede historische Wahrheit und die Rache süßer als irgendwo sonst. In dieser Gegend wimmelt es von Helden, Verrätern und Schurken, und der Schiedsrichter ist oft der Schlimmste von allen.

Nun ja, ganz so arg kam es beim Sachsen-Anhalt-Derby am zurückliegenden Wochenende (Magdeburg versus Halle 2:1) dann doch nicht. Aber die Fetzen flogen trotzdem: drinnen wie  draußen. Zweimal Rot, ein Biss in den Oberarm, Rudelbildung, Schubsereien und ganz viel Dramatik im Spielablauf. Draußen ein hohes Aufgebot an Sicherheitskräften, mehrere Wasserwerfer, Absperrgitter, wohin man blickte, über allem kreiste drohend ein Hubschrauber. Mit  22.481 Zuschauern, die Krawall machten wie in einem Erstliga-Stadion, wurde ein neuer Saisonrekord registriert. Ein echtes Derby eben, und mit dem richtigen Sieger obendrein.

Die fixen Statistiker benötigten nach dem Schlusspfiff nur Sekunden, um es zu melden: Es war der 47. Sieg des FCM im 102. Sachsen-Anhalt-Derby. Wobei sie alle Partien, einschließlich Freundschaftsbegegnungen, zwischen dem FCM und dem HFC und deren Vorgängerklubs seit 1950 erfasst haben. Na also, jubelten die Magdeburger Fans, auch hier haben die Blau-Weißen eindeutig die Nase vorn. Rot-Weiß triumphierte 36 Mal. 19 Partien dieses Duells mit Tradition endeten unentschieden.

Wobei das Wort Tradition nach deutscher Deutung bemessen werden sollte. Denn anderswo, wie im Fußball-Mutterland England, blicken Auseinandersetzungen von Klubs aus einer Stadt oder Region auf eine über 100-jährige Geschichte zurück. Von Sachsen-Anhalt-Derbys, nimmt man es wörtlich, kann eigentlich erst nach der Wende gesprochen werden. Der Kampf um den Status als Landeshauptstadt des neuen Bundeslandes befeuerte seinerzeit die Rivalität beider Städte noch zusätzlich. Bis dahin trennten sie nicht nur 100 Kilometer schlechter Straßen, sondern mehr noch eherne DDR- Bezirksgrenzen. Konfessionelle oder landsmannschaftliche Verwerfungen, die in anderen Ländern Derbys erst entstehen und später boomen ließen, sind nicht überliefert.

Selbst wenn beide Vereine zum ersten Mal am 14. Juni 1952 in einem Freundschaftsspiel aufeinandertrafen (Motor Mitte Magdeburg unterlag Turbine Halle, frisch gebackener DDR-Meister, deutlich mit 0:3), ihre Erz-Rivalen suchten sich die Magdeburger später ohnehin woanders: in Dresden, in Berlin, in Jena. Sie galten lange als das wahre Augenmaß für die Elbestädter. Halle, diesen Hochmut gönnte man sich, gehörte nicht in diese Kategorie.

Wenn von Derbys in jener Zeit die Rede war, besaßen sie meist einen mehr oder weniger politischen Hintergrund. Auf der einen Seite standen (von Partei und Staat) privilegierte Klubs (in die die besten Spieler „delegiert“ wurden), auf der anderen Seite sogenannte Underdogs, die, teils willkürlich, aus der Spitzenförderung herausgenommen worden waren. So entstanden jene heißen Ost-Derbys zwischen dem BFC Dynamo und Union Berlin oder zwischen dem 1. FC Lok und Chemie Leipzig. In diese Kategorie gehört ebenso das Thüringen-Derby zwischen Jena und Erfurt. Zwischen Groß und Klein also.

Die Kicker-Rivalität zwischen Magdeburg und Halle nahm erst zur Jahrtausendwende allmählich Fahrt auf. Zuvor waren die Teams in unterschiedlichen (in der Regel unteren) Ligen unterwegs. 2015, mit dem Aufstieg des FCM in den Profifußball, wurden die Karten noch einmal neu  gemischt. Jetzt waren es echte Derbys mit allem Drum und Dran. Jetzt ging es wirklich um die Vorherrschaft in Sachsen-Anhalt.

Es bleibt die Frage: Was macht ein echtes Lokal-Duell zu einem so einzigartigen Spiel? Einfach gesagt, an diesem einen besonderen Tag besser zu sein als der andere. Derby-Spiele erhalten oftmals eine Bedeutung, die mit der Tabellensituation nicht ansatzweise argumentativ zu begründen ist. FCM-Coach Härtel sieht es so: „Das Derby ist wie ein Pokalspiel, alles, was davor war und was danach ist, ist in diesem Spiel erst einmal nicht so wichtig. Die Tabellensituation spielte keine Rolle.“ Sein Profi Nils Butzen ergänzt: „Es geht darum, unter Beweis zu stellen, wer die Nummer eins im Land ist.“ Nach dem jüngsten FCM-Triumph wäre die eigentliche Idee des Derbys, nämlich wer der Herr im gemeinsamen Haus Sachsen-Anhalt ist, vorerst geklärt.

Aus welchem Winkel es auch gesehen werden mag: Angesichts von Geld-Maschinen wie Champions League und einer bereits avisierten Weltliga bleiben Derbys im besten Fall ein erfreulicher Anachronismus der Fußballgeschichte. Das wurde am Wochenende durch das Revier-Duell zwischen Dortmund und Schalke (4:4), Deutschlands traditionsreichstes Aufeinandertreffen zweier Lokalrivalen, nachdrücklich bestätigt. Nicht umsonst war die Rede vom „Jahrhundert-Derby“. Ein Ereignis, bei dem an einem guten Tag noch die Magie des Moments über Klasse und  Kalkül und Geld triumphieren kann. „Egal, wie ihr abschneidet“, schwadroniert man gern auf Schalke, „wenn ihr gegen die Stadt bei Lüdenscheid gewinnt, ist es eine gute Saison." In Dortmund drückte man beim Blick auf das Klassement schon mal gnädig ein Auge zu, solange nur "Herne-West", also Schalke,  in den direkten Duellen ordentlich eins auf die Mütze bekommt.

In Derbys wird eben schnell mal übers Ziel hinaus geschossen. Überall, und zuweilen sogar kräftig. Wie beispielsweise Fans von Manchester City einst bei der Verpflichtung des Ex-Magdeburgers Uwe Rösler. Mit Blick auf die bevorstehende Partie gegen den Lokalrivalen Manchester United und dessen Stadion Old Trafford prägten Freigeister den Schlachtruf: „Wer hat Old Trafford bombardiert? Uwes Opa!" Ob dies durch das Siegel „Typisch britischer Humor“ geschützt ist, sei freilich dahingestellt. Rudi Bartlitz

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