Der tanzende Sprinter

Thomas Barthel (18) vom SCM gehört zu den Hoffnungsträgern der deutschen Sprinter. Foto: Eroll Popova

Ein 18-jähriger Magdeburger ist derzeit Sachsen-Anhalts schnellster Mann. Warum für den Leichtathleten Thomas Barthel die Zahl 100 eine magische Anziehung besitzt.
Die Hundert ist eine magische Zahl. Findet Thomas Barthel. Der aufstrebende Leichtathlet vom SC Magdeburg sollte es wissen. Schließlich sind die 100 Meter seine Strecke. Über diese Dis-tanz ist er vor gut einer Woche in Ulm deutscher Meister  bei den U-20-Junioren geworden. Wenige Tage zuvor feierte er in derselben Altersklasse mit der deutschen 4x100-Meter-Staffel  bei den kontinentalen Titelkämpfen im italienischen Grosseto zudem seinen bisher größten Erfolg überhaupt: Europameister.
„Die 100 Meter sind für mich eine magische Zahl, weil sie einfach für 100 Prozent stehen“, sagt der 18-Jährige Sprinter. „Für 100 Prozent Leistung, für 100 Prozent Konzentration, für 100 Prozent Willen.“ Im Gespräch mit dem Schüler des Magdeburger Sportgymnasiums wird schnell klar, dass ihn der Kurz-Sprint, der nicht umsonst als die Krone der olympischen Leichtathletik gilt, regelrecht fasziniert. „Das ist kurz und kompakt, da kannst du dir nicht eine Zehntelsekunde Unaufmerksamkeit leisten.“ Und noch etwas bewegt ihn: „Das ist die Ruhe vor dem Start. Für mich unglaubliche Momente. Selbst im größten Stadion spürt man drei Sekunden absolute Stille …“
Alles andere als still verlief hingegen dieses Jahr für den jungen Mann, der vor vier Jahren aus der Altmark aufgebrochen war, die Leichtathletikwelt zu erobern. Dieses Erobern bezieht sich nicht nur auf die Medaillen; in Grosseto wurde er, knapp geschlagen, über die Einzelstrecke zudem EM-Vierter. Nein, vor allem auf die Zeiten ist er stolz. „Ich war mit einer Bestleistung von 10,50 Sekunden ins Jahr 2017 gegangen, jetzt stehe ich bei 10,35. Ich würde sagen: Eins mit Sternchen.“
An eine derartige Leistungsexplosion war 2013 absolut noch nicht zu denken, als er vom LV Stendal 92 in die Landeshauptstadt wechselte. Selbst wenn ihn Vater und Mutter – beide einst Sprinter beim SCM – offenbar die nötigen Gene mitgegeben haben. „Leichtathletik habe ich seinerzeit nur nebenbei gemacht“, erzählt Barthel. „Ich war leidenschaftlicher Tänzer.“ Er lächelt. „Drei Jahre war ich im Tanzkurs mit Feuereifer bei der Sache.“
Die altmärkische Tanzdielen werden den Abgang des Blondschopfs verkraften können. Deutschlands über Jahre darbende Sprinter  (sieht man einmal von Rekordmann Julian Reus ab) haben mit dem 84-Kilo-Kraftpaket vom SCM ein mehr als hoffnungsvolles Talent hinzubekommen. „Nächstes Jahr ist mein erstes bei den Erwachsenen. Da will ich meine Leistungsentwicklung möglichst fortsetzen“, kündigt der Schützling von Trainer Eik Ruddat an. Fernziel sei Olympia 2020. „Tokio ist auf jeden Fall im Plan. Die größte Chance dazu sehe ich derzeit in der Staffel. Aber dann nur auf der Geraden, ein Kurvenläufer bin ich nicht.“
Doch bevor es soweit ist, steht für den derzeit schnellsten Mann Sachsen-Anhalts im nächsten Jahr erst einmal das Abitur („Lieblingsfächer sind Sporttheorie und Biologie.“) an. Anschließend möchte er sich an der Fachhochschule der Polizei in Aschersleben einschreiben: „Das wäre für meine sportlichen Pläne in Magdeburg sicher am günstigsten.“  Sein insgeheimes Hobby, die Medien- und Filmwelt („Nicht so sehr das, was vor der Kamera passiert – eher das dahinter.“), muss wohl noch ein paar Jahre warten. Nichtsdestotrotz ist er kurz nach den deutschen Meisterschaften erst einmal für ein paar Tage ins Film-Feriencamp nach Arendsee gedüst.   
Den bei den Weltmeisterschaften in London zu erlebenden Hype um Jamaikas Sprint-Ikone Usain Bolt hat er dabei freilich nicht aus dem Auge verloren. Bolt, da liegt die Frage nach dem Vorbild regelrecht auf der Hand. Barthels Antwort verblüfft ein wenig: „Nein, Bolt ist es nicht. Eigentlich habe ich überhaupt kein Vorbild. Aber ich schaue bei den anderen natürlich genau hin, was sie in welcher Situation wie tun.“ Genau hinschauen will er auch bei seinem Gewicht: „Ich bin ein Sprinter, der vor allem über die Kraft kommt, weniger über die Eleganz. Bei 1,83 Meter Größe sind 84 Kilo das Maximum, mehr sollten es möglichst nicht werden.“
Apropos Bolt. Ist es für einen Europäer nicht frus-trierend zu sehen, dass die Finalfelder bei internationalen Höhepunkten ausnahmslos von farbigen Sprintern dominiert werden? Verliert man da nicht die Lust? Barthel verneint die Frage. „So etwas darf man sich gar nicht erst einreden. Im Sprint kann immer etwas passieren. Ich für mich sehe es so: Das Erreichen eines Vorlaufes bei Olympia oder einer Weltmeisterschaft wäre schon so etwas wie ein Finale.  Außerdem sehen wir Deutschen unsere besten Chancen natürlich in der Staffel. Ein sehr gut eingewechseltes Quartett, und das sind wir oft, sollte in der Lage sein, sich zumindest dem  Vergleich mit den Amerikanern  oder den Jungs aus der Karibik zu stellen.“
Und wo steht, um im Bild der magischen 100 zu bleiben, Thomas Barthel in 100 Monaten? Er denkt kurz nach: „Das wäre Ende 2025, richtig? Da wäre ich 27. Also im besten Sprinter-Alter. Ich hoffe, dass ich dann auf jeden Fall die 10,0-Schallmauer geknackt haben werde.“ Wieder so eine Eins mit zwei Nullen. Rudi Bartlitz


Kompakt

Die 100 Meter sind die kürzeste im Freien ausgetragene Sprintstrecke bei nationalen und internationalen Meis-terschaften. Der erste Sprint-Wettkampf in Deutschland fand am 6. Juni 1880 auf der Pferderennbahn in Hamburg-Horn auf Yard-Strecken statt und war zugleich der erste Leichtathletik-Wettkampf in Deutschland überhaupt. Läufe über 100 Meter sind seit Mitte der 1890er Jahre bekannt. Erster deutscher Olympiasieger auf der klassischen Strecke war Armin Hary 1960 in Rom (10,0 s handgestoppt). Der Weltrekord liegt seit der WM 2009 in Berlin bei 9,58 Sekunden, erzielt von Usain Bolt (Jamaika). Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 10,44 m/s oder 37,58 km/h.

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