Der geplatzte Traum

Angespannte Mienen in Göppingen (v.l.): Trainer Bennet Wiegert, Mads Christiansen, Marko Bezjak und Fabian van Olphen. Foto: Guido Augustin

Der Saisonhöhepunkt, das Final-Four-Turnier um den EHF-Cup, endete für den SC Magdeburg mit einer riesigen Enttäuschung. Da half auch die Unterstützung der tollen Fans nichts.
Es soll kräftig rumort haben auf dem Hohenstaufen, dem einstigen Sitz des alten Barbarossa, auch bekannt unter dem royalen Namen Kaiser Friedrich I. Was sich da am vorletzten Mai-Wochenende in Göppingen am Fuße des legendären Bergkegels, dem Stammsitz des Herrschergeschlechts der Staufer, tat, glich einer kleinen Sensation. Weder die hochgewetteten Berliner Füchse und auch nicht Mitfavorit SC Magdeburg holten am Ende den Silberpokal, die zweitwichtigste Trophäe des europäischen Klubhandballs. Sondern Gastgeber FrischAuf Göppingen. Ausgerechnet jene Göppinger, die zuvor in der Bundesliga von einer Schlappe in die nächste gestolpert waren. Im Finale spielten sie die Berliner beim 30:22 in Grund und Boden. Die Jubelfeiern in der EWS-Arena, in vorkommerziellen Zeiten als Hohenstaufen-Halle bekannt, erreichten Dezibel-Werte, die den Start eines Eurofighters allemal in den Schatten stellten.
Bei so viel Siegestrunkenheit sind Enttäuschung und Missstimmung in der Regel nicht weit. Nicht nur die SCM-Akteure waren ob ihres dritten Platzes (32:31 nach Siebenmeterwerfen gegen den französischen Vertreter St. Raphael) am Boden zerstört. Auch die Schlachtenbummler aus Magdeburg wollten nicht glauben, was sie hautnah miterlebten - dass ihr Klub schon im Halbfinale gegen den Gastgeber die Segel streichen musste. Ein Tross von sage und schreibe 500 Fans hatte sich mit Bussen und in Privat-Pkw auf die strapaziöse zweitägige Reise ins 550 Kilometer entfernte Göppingen begeben.
Dabei stellte die Jagd nach den begehrten Tickets die SCM-Anhänger schon lange vor dem Turnier auf eine besondere Probe. Nur 250 Karten standen zunächst jedem der drei auswärtigen Finalisten für die „Hölle Süd“, wie die Göppinger ihre Spielstätte nennen, zur Verfügung. Auf das Glück, auf dem offiziellen Weg erfolgreich zu sein, wollten sich viele Fans nicht einlassen und ließen „Beziehungen“ spielen, um anderweitig eines der Tickets zu ergattern. Wie am Ende in der Halle zu sehen: Sie waren erfolgreich gewesen. Auf den Autobahnen Richtung Süden war Grün-Rot an diesem Wochenende eine oft gesehene Farbkombination.

Kein Vergnügen zum Nulltarif
Manche nahmen für die Tour extra ein oder mehrere Tage Urlaub. Und auch ansonsten stellt so eine Fahrt kein Vergnügen zum Nulltarif dar. Zu den Eintrittspreisen zwischen 89 und 120 Euro (für vier Begegnungen) kommen da noch die Kosten für eine oder zwei Übernachtungen sowie für Speis und vor allem Trank hinzu. Da zahlreiche Fans ihren Lieblingsklub ebenso zu vielen Bundesliga-Auswärtspartien quer durch Deutschland und zu Partien ins europäische Ausland begleiten, bewegen sich die Ausgaben bei ihnen summa summarum am Ende des Jahres im vierstelligen Bereich. „Davon“, meinte ein Handball-Globetrotter in Göppingen, „könnte ich gut Urlaub in der Karibik machen – und hätte am Ende noch etwas übrig.“
Untröstlich war Edel-Fan Katja Herrmann. Sie durfte die überdimensionale Klubfahne, die die Biederitzerin, stets in extravagantes grün-rotes Outfit gehüllt, schon in nahezu allen deutschen Handball-Tempeln präsentiert hat, ausgerechnet in Göppingen nicht zeigen. „Ich habe extra persönlich an den europäischen Verband geschrieben und um eine Erlaubnis nachgesucht“, sagt sie. „Doch die haben es mit der Begründung abgelehnt, dies sei ein internationaler Wettbewerb. Da wäre so etwas nicht erwünscht.“ Standarte hin, Standarte her, von der Abwesenheit ihres Banners ließen sich die Fans aus der Elbestadt jedoch nicht aufhalten. Die Unterstützung ihrer Lieblinge auf dem Parkett war ebenso ungebrochen wie lautstark. Kaum einer reiste enttäuscht vorzeitig nach dem Halbfinal-K.o. ab, die Unterstützung bei der Partie am Sonntagnachmittag um Rang drei war garantiert (Schlachtruf: „SCM, du bist nicht allein“). Nur im von den Veranstaltern extra eingerichteten Fan-Village und bei der abendlichen Party im Schlosshof blieb es unter den Magdeburgern etwas ruhiger, der Schock vom einige Stunden zuvor erlittenen Halbfinal-Aus wirkte nach.

Die Fans sind weltklasse
Dennoch: Hätte es einen Wettbewerb der Fan-Blocks gegeben, die Magdeburger, die sich fast durchweg in extra für das Final-Four-Turnier angefertigten roten Trikots zeigten, hätten ihn – sieht man einmal von den zahlenmäßig einfach überlegenen Gastgebern ab – haushoch gewonnen. Apropos Trikot: Jeder Magdeburgern, der eine gültige Eintrittskarte fürs Finalturnier vorweisen konnte, hatte das TShirt von SCM-Partner Getec kostenlos erhalten. Trainer Bennet Wiegert hinterher: „Unsere Fans sind einfach weltklasse, den EHF-Cup der Fans haben sie eindeutig gewonnen. Wie sie uns unterstützt haben, da fehlen mir die Worte. Das gibt Sicherheit und Stärke.“
Eine interessante Option, mit Niederlagen umzugehen, hat in diesem Zusammenhang Sportpsychologin Jeannine Ohlert von der Sporthochschule in Köln parat: „Eine Mannschaft, die verliert“, sagt sie, „sucht nach einer alternativen Identität, über die sie sich definiert, zum Beispiel: ,Wir haben die besten Fans.’ So nimmt der Leistungsgedanke nicht mehr so viel Raum ein. Dadurch können sich alle wieder besser fühlen und gehen mit Niederlagen entspannter um.“ Ob dies allerdings den SCM-Profis weiterhilft, darf in dieser konkreten Situation durchaus bezweifelt werden …

„Ich hasse es, zu verlieren“
Alle Fan-Euphorie in Ehren, diejenigen, um die es an diesem Final-Four-Wochenende zuallererst ging (oder besser: gehen sollte), nämlich die SCM-Akteure, verstanden die Welt nicht mehr. Die Göppinger hatten ihnen im Halbfinale (29:33) quasi die Tür vor der Nase zugeschlagen. Und das mit einem richtigen Rumms. Trainer Wiegert sprach anschließend von einer „Angst vor dem Sieg“, die sein Team regelrecht gelähmt habe. Leere Blicke bei den Spielern nach dem Schlusspfiff, kaum noch zu einer Bewegung fähig. Torjäger Michael Damgaard („Ich hasse es zu verlieren“) standen bei der Pressekonferenz die Tränen in den Augen. Dabei war das Final Four in Göppingen, wie es Wiegert auf den Punkt brachte, vom SCM zum Saisonhöhepunkt schlechthin erkoren worden: „Diese Blase ist geplatzt.“ Zehn Jahre nach dem letztmaligen Triumph in diesem Wettbewerb wollte man den Pokal wieder in die Höhe stemmen. Sich auf dem Rathaus-Balkon feiern lassen; wenn auch keineswegs in jener berühmt-berüchtigten Kretzschmar-Manier, der einst 2001 nach der Meisterfeier in der Harald-Schmidt-Show davon schwadroniert hatte, beim Rathaus-Festakt gleich mal Hand an den Oberbürgermeister zu legen. Für vier Aktive, die den Verein im Sommer verlassen (Yves Grafenhorst, Finn Lemke, Fabian van Olphen, Jacob Bagersted) sollte die Balkon-Feier ein unvergesslicher Abschied von den Grün-Roten werden.
Bei aller Enttäuschung und Tragik, zumindest die Klubführung nahm es sportlich. „Wir waren leider gegen FrischAuf Göppingen nicht gut genug“, konstatiert Geschäftsführer Marc Schmedt. „Diese Niederlage geht bei allem Kampf letztendlich sportlich voll in Ordnung. Wir konnten unsere Form der letzten Wochen und Monate nicht auf die Platte bringen.“ Richtig: Mit einer beeindruckenden Serie von 22 Begegnungen ohne Niederlage war der SCM ins Schwabenland gereist. Der SCM war die Mannschaft der Stunde in Deutschland – bis eben Göppingen kam und die Serie riss.
Dennoch wollte Schmedt im Gespräch mit MAGDEBURG KOMPAKT den Auftritt seines Teams keineswegs verteufeln. „Wir haben, das sollte man festhalten, zwei unserer wichtigen Ziele erreicht, nämlich das Final Four zu spielen und uns fürs nächste Jahr wieder für einen internationalen Wettbewerb zu qualifizieren“, sagte er noch am Spielfeldrand der EWSArena. „Zudem ist es uns gelungen, Leistungsträger wie Christian O’Sullivan, Jannick Green und Michael Damgaard langfristig an uns zu binden.“ Und in der Meisterschaft ist, das sollte man hinzufügen, trotz des 25:25-Unentschieden bei den Füchsen Berlin am vergangenen Mittwoch, noch immer zumindest Platz vier drin.
Eine Erkenntnis ist aus den Tagen von Göppingen auf jeden Fall geblieben: Die eigenen vier Wände, siehe Sieger FrischAuf, können Gold wert sein. Und so hat Schmedt vorsichtshalber für ein Mai-Wochenende 2018 die heimische Getec-Arena schon einmal reservieren lassen. Es wäre – beim Barte des Barbarossa – doch gelacht, wenn es dann, die tollen eigenen Fans zu Tausenden im Rücken, mit dem Pokalgewinn nicht klappen würde. Rudi Bartlitz


Kompakt

Der EHF-Pokal ist nach der Champions League der zweitwichtigste europäische Wettbewerb für Klubmannschaften. Erstmals ausgetragen wurde er in seiner heutigen Form 2013, als der Kontinentalverband die einstigen Spiele um den Cup der Pokalsieger und den EHFCup vereinte. Seit jeher ist er eine Domäne der deutschen Klubs. Von den fünf Wettbewerben seit 2013 gewannen sie vier (Zweimal Göppingen, Berlin und die Rhein-Neckar Löwen). Beim Finalturnier 2017 waren drei der vier Starter Bundesligisten. Insgesamt hatten sich am diesjährigen Cup 63 Mannschaften aus 35 Ländern beteiligt. Für den Sieger sind 100.000 Euro ausgelobt. Die Platzierten erhalten 50.000, 25.000 und 10.000 Euro.

Der SC Magdeburg bestreitet seit 1970 Spiele in den internationalen Wettbewerben. Er steht derzeit in seiner 29. Saison im Europacup. Der größte Erfolg war 2002 der Gewinn der Champions League, was zuvor noch keiner deutschen Mannschaft gelungen war. Zweimal wurde der Europapokal der Landesmeister geholt: 1978 und 1981. Im EHF-Cup triumphierten die Grün-Roten dreimal: 1999, 2001, 2007. Insgesamt bestritt der SCM 229 EC-Spiele. Es gab dabei 153 Siege, 13 Unentschieden, 63 Niederlagen.

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