Zum Großen drängt alles

Eine kleine Größenkunde

Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, so sagt es ein altes deutsches Sprichwort. Doch wie schnell sind die kleinen Dinge vergessen, wenn wir oft gern auf die Superlative schauen, auf die großen Ereignisse und von den alles überragenden Dingen ergriffen werden. Als kleines Kind kann man es nicht erwarten, groß zu werden. Alles, was Menschen hervorbringen, fängt bekanntlich klein an und soll möglichst schnell wachsen. Es liegt offenbar in unserer Natur, Großes erreichen oder schaffen zu wollen. Mitunter entsteht dabei gar Gigantismus.

Größe verfügt über eine magische Anziehung, für manche ist es Reichtum, für andere die Anzahl angehäufter Gegenstände, selbst die Zahl folgender Freunde in einem Social-Media-Kanal macht mehr her, je mehr es sind. Wer große Aufmerksamkeit erreicht, wird berühmt und kann höhere Preise verlangen. Weltmeister mit ihren Spitzenleistungen überragen alle anderen und werden dafür bewundert. „Das Durchschnittliche gibt der Welt ihren Bestand. Das Außergewöhnliche ihren Wert“, so drückte es Oscar Wild aus. Doch welche Bedeutung sollen die kleinen Dinge dann noch haben? Oft werden sie vergessen oder man schenkt ihnen wenig Beachtung. Dabei ist aller Ursprung im Kleinen zu finden, jedes noch so Große ist die Summe vieler kleiner Bestandteile, jede Spitzenleistung nur das Resultat ungezählter Übungsstunden. Und so erstrebbar Größe auch erscheint, es gibt immer einen Punkt, bei dem Größe ihr maximales Potenzial erreicht, um danach zu zerfallen, als abstoßend zu gelten oder gar als schädigend.

Kommt Wirtschaftswachstum an sein Ende, muss eben der Wert an der Sache steigen, um dennoch mehr Größe zu erlangen. Der Mensch wird von der Vorstellung fortwährend steigerbarer Größe angetrieben, obwohl er selbst nichts davon festhalten, ins Jenseits befördern oder sonst irgendeinen Nutzen nach dem Leben davon tragen könnte. Sogar die Gegner jeglichen Wachsens von Wirtschaft, Unternehmen oder globalen Institutionen streben selbst nach einer wachsenden Bewegung, die sich gegen alles andere wachsende stemmen sollte.

Was ist groß? Was ist klein? Was ist eine angemessene Menge wofür? Gefühle sollen möglichst groß sein, damit sie wirkmächtig erlebt werden. Wer möchte nur die kleine Liebe erfahren oder das kleine Glück? Dabei ist das Große das Vergängliche. Das Kleine stets der Keim für etwas Neues. Im Kleinen liegt der Grund für alle Bewegung, der Ausgangspunkt für alles Aufstrebende. Längst blickt der Mensch ins Kleinste vom Kleinen und erforscht die atomaren Ebenen. Auch wenn Johann Wolfgang von Goethe noch nichts von elektromagnetischen Kräften wusste, keine Ahnung von Photonen, von Elementarteilchen, Quanten und Strahlungen hatte, so wusste er gut zu beschreiben, worum es im Kern geht: „Willst du dich am Ganzen erquicken, so musst du das Ganze im Kleinsten erblicken.“ Wer nur über’s Große und Gewaltige staunt, hat den Blick für den Zusammenhang verloren, erkennt keine Details oder verwirkt gegenüber anderen vielleicht das Gefühl für Liebe, weil es eben die kleinen Dinge sind, die alles Große ausmachen. Das Kleine ist das wahrhaft Große. Axel Römer

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