Wie ein Leuchten am Himmel

Mit dem Älterwerden rückt die Zeit näher, in der wir aus dem Arbeitsleben fallen. Glücklich können sich dann vor allem die Menschen schätzen, die sich auf ihre Hobbys besinnen. Mich zog es neben der Fotografie zur Musik, weil sich mein musikalischer Körper meldete. In jungen Jahren sang ich immer im Chor. Aber ob das jetzt im Alter noch möglich war? Ein Vorsingen bei einer Musiklehrerin bestätigte mir, dass es gelingen kann. Meine wieder erwachte Musikseele wollte singen, singen, singen … Daher besuchte ich mehrere Proben von Chören und durfte mein Können unter Beweis stellen. Trotz meines Alters, gab mir ein Gesangverein die Chance mitzusingen. Welch wunderbarer Chor ist doch der Polizeichor! Unterstützung wurde mir stets zuteil und ein Gefühl des Geborgenseins umgab mich bei den Proben.

Das Ehepaar Tatjana Schemetowa und Leonid Schemetow als Chorleiter erleben zu dürfen, ist auch heute noch etwas besonderes für mich. Die Menschlichkeit im Umgang mit den Mitgliedern und das ungebrochene Engagement für die Musik faszinieren mich jedes Mal aufs Neue. Es ist egal, wie es dem Einzelnen selber geht, jeder ist für den gesamten Chor da. Der Zusammenhalt der Sängerinnen und Sänger auch in kritischen Situationen – all das empfinde ich als einzigartig und sehr wohltuend in der heutigen Zeit. Ob der Krankenstand vor Auftritten hoch ist, ob die Schemetows oder andere Mitglieder Hilfe benötigen, der Chor ist wie ein organisch gewachsener, einheitlicher Körper … eine Familie.

Selbst vor emotional sehr berührenden Situationen scheut sich der Polizeichor nicht. Ein langjähriger Sänger erkrankte schwer und musste ins Pflegeheim. Bei der Betreuung von Günter halfen die Mitglieder des Chores, indem sie ihn sehr oft besuchten. Jedoch verschlechterte sich sein Zustand Ende Oktober deutlich. Die Ärztin konnte nicht sagen, wie viel Zeit Günter auf Erden noch verbleibt. Sowohl vom Chor als auch von den Schemetows kam dann unabhängig die gleiche Idee: „Wir gehen in das Heim und singen für unseren Günter“. Alle einigten sich auf Freitag, den 3. November 2017. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren, Lieder wurden ausgesucht und jeder, der es ermöglichen konnte, war bereit, nur für Günter zu singen.


Eine Woche vor dem „Auftritt“ erreichte uns jedoch eine erschütternde Nachricht der Heimärztin. Günter ginge es sehr, sehr schlecht. Ob er am 3. November noch unter uns weilen würde, konnte sie nicht sagen. Der Chor musste daher mit seinem Vorhaben sehr kurzfristig reagieren. Einen Tag später, am 28. Oktober, konnten wir Günter unter der Leitung von Leonid Schemetow mit Gesang erfreuen. Vorher hatte eine Whats-App-Flut der Chormitglieder dafür gesorgt, dass all diejenigen zusammengetrommelt wurden, die an diesem Tag singen konnten. Einige kannten das eine oder andere Lied noch nicht oder es fehlten die Noten. Diese wurden blitzschnell bereitgestellt, Links mit Aufnahmen zu den entsprechenden Liedern weitergegeben, damit alle gut gerüstet waren. Manche Sängerinnen und Sänger verschoben sogar persönliche Termine, damit sie für diesen einen Augenblick der Menschlichkeit, für ihren Günter, singen konnten.

Es entstand erneut dieser bemerkenswerte Zusammenhalt des Polizeichores. Keine Fragen, keine großen Diskussionen. Alle, die zugesagt hatten, kamen am Samstag ins Pflegeheim, um Günter dieses Glück des Gesangs noch einmal zu geben, dieses Gefühl, ein Teil des Chores zu sein. Für dieses Mal kein Einsingen, keine Aufstellung üben, sondern gleich vor seiner Tür das Singen beginnen. Er saß nicht mehr im Rollstuhl, sondern lag im Bett, aber es war ihm vergönnt, die Lieder seines Chores zu hören. Mehr als 20 Jahre hatte er mitgesungen. Und nach unserem „Auftritt“ sagte Günter: „Welch schöner Abschied“.

Doch warum eigentlich schreibe ich diese Zeilen? Die spontane Gesangseinlage des Chores ist heute keine Selbstverständlichkeit. In einer Zeit, in der Geld in einem unerträglichen Ausmaß regiert, sind solche Ereignisse von Liebe und Menschlichkeit, von Aufopferung vieler Menschen für nur einen Menschen wie ein großes Leuchten am Himmel. Das sind Ereignisse, die anderen Kraft geben und uns zeigen, worum es im Leben geht. Ich bin dem Universum dankbar, dass ich alles im Umfeld dieses Chores so erleben durfte. Wir sollten uns nicht nur zu solchen Ereignissen oder nach Fluten und Stürmen an den Händen halten. Ich bin dankbar, dass es in Magdeburg und Umgebung so viele gute Chöre gibt. Singen in der Gemeinschaft und in der Familie ist kraftvoll und wichtig für jeden. Die Menschen müssen keine „gute“ Stimme haben, um dies zu realisieren. Es ist traurig, dass das Singen in der Mehrzahl der Familien in Deutschland selten geworden ist …
Am 1. November 2017 erhielten wir die Nachricht, dass Günter von uns gegangen ist. Wie schön, dass der Gesang des Chores ihn auf seinem letzten Weg begleitet hat. Rosemarie Tippold

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