Synthese aus innerer Schau und äußerem Zwang

Kleine Vorbemerkung: Einer der Herausgeber dieses Heftes fragte mich, ob ich bereit wäre, darüber zu schreiben, ob Ingenieure im Denken irgendwie anders denken. Ich habe zugesagt. Das war, wie ich beim Schreiben feststellte, äußerst leichtfertig. Ingenieure denken nämlich genauso wie andere Menschen. So viel als Fazit vorweg. Die Frage muss anders gestellt werden: „Gibt es Besonderheiten, die ein typisches Denken oder Verhalten von Ingenieuren ausmachen?“ Ja, vielleicht gibt es solche.

Fangen wir beim Ursprung an. Das Wort „Ingenieur“ leitet sich vom lateinischen „Ingenium“ ab und kann, je nach Kontext, mit „Sinnreiche Erfindung“ oder „Scharfsinn“ übersetzt werden. Im Mittelalter waren Ingenieure Kriegsbaumeister, verantwortlich für Festungsbau und allerlei Angriffs- und Verteidigungsmechanismen. Auch Leonardo da Vinci trug für seine umfangreichen Waffenentwicklungen den Titel „ingeniarius“. In den Armeen des 30-jährigen Krieges gab es eigenständige Gruppen technischer Fachleute, später wurden Artillerie- und Ingenieurkorps gegründet. Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts erweiterte sich der Ingenieurbegriff über den Einsatz in der Militärtechnik hinaus auf zivile Anwendungen, insbesondere in der Geodäsie und Kartographie, dem Wasserbau oder dem Bergbau. Im Dezember 1743 nahm die Ingenieurakademie zu Dresden ihren Lehrbetrieb auf, in der Fächer wie Mathematik, Festungsbau, Geodäsie, Geographie, Zivilbaukunst, Mechanik und Maschinenkunde gelehrt wurden. Weitere Länder in Europa folgten. Über die Vermittlung von praktischem Wissen hinaus wurde zunehmend Wert auf wissenschaftliche und theoretische Inhalte gelegt, viele Ingenieurschulen wurden im 19. und 20. Jahrhundert zu Technischen Hochschulen bzw. Technischen Universitäten ernannt. 1856 wurde der zunehmenden Bedeutung und Anerkennung des Ingenieurs in den deutschen Ländern durch die Gründung des „Vereins Deutscher Ingenieure (VDI)“ in Alexisbad im Harz Rechnung getragen. 1899 wurde auf Erlass des Kaisers Wilhelm II. an den Technischen Hochschulen Preußens der akademische Grad Diplom-Ingenieur (Dipl.-Ing) und der Doktor der Ingenieurwissenschaften (Dr.-Ing) eingeführt.

Übrigens war die erste diplomierte Ingenieurin in einem europäischen Staat Cécile Butticaz, die 1907 an der Ingenieurschule Lausanne ihr Diplom als Elektroingenieurin erwarb, ab 1909 ein Ingenieurbüro leitete, am zweiten Simplonstollen mitarbeitete und 1929 an der Universität Genf in Physik promovierte.

Das Ingenieurwesen entwickelte sich ab dem 18. Jahrhundert in ganz Europa und auch in Übersee stürmisch und führte zur sogenannten 1. Industriellen Revolution. Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft erzeugte bisher unvorstellbare technische Neuerungen, das Maschinenzeitalter begann. Mit der Verfügbarkeit einer dezentralen Energiequelle, der Dampfkraft, wurde die Abhängigkeit von Wind- und Wasserenergie bzw. Tierkräften gelöst. Pumpen, Hämmer, Gebläse, Walzen oder mechanische Webstühle konnten jetzt überall aufgestellt werden. 1815 begann die Dampfschifffahrt auf der Themse, am 29. Juni 1839 wurde das erste Teilstück der Fernbahn zwischen Magdeburg und Leipzig bis Schönebeck in Betrieb genommen.

Die Aufzählungen zu technischen Entwicklungen im 19. Jhd. ließen sich endlos fortsetzen und jedem Interessenten sei empfohlen, sich mit der Industriegeschichte unseres Landes, vor allem aber auch unserer Stadt Magdeburg zu beschäftigen. Am Ende des 19. Jahrhunderts folgten der Dampfmaschine der Verbrennungs- und der Elektromotor, die wiederum ungeahnte technische Anwendungen auslösten. Es begann die sogenannte 2. Industrielle Revolution, die Phase der intensiven Mechanisierung aller Produktionsprozesse. Der Drang der Technik-Geschichtswissenschaftler nach Systematisierung hat uns zu weiteren Klassifikationen geführt. Ab Mitte 1970 sprechen wir von der 3. Industriellen Revolution, die mit dem Einsatz der Mikroelektronik verbunden ist und seit einiger Zeit wird uns gesagt, dass wir nun im Zeitalter der 4. Industriellen Revolution leben, der sogenannten Industrie 4.0, die uns die Digitalisierung aller Lebensbereiche und der kommunikativen Verbindung von Mensch und Maschine bringen wird.

Es ist nach diesem kleinen geschichtlichen Exkurs nun an der Zeit, sich wieder mit der Ausgangsfrage dieses Aufsatzes zu beschäftigen, gibt es ein besonderes „Ingenieurdenken“? Nun, Ingenieurgeist lebt von Neugier, Kreativität, Visionen, Erfindungen und ständigen Innovationen, aber auch von den Entbehrungen, den schlaflosen Nächten, den Mühen der Wissensaneignung, dem ständigen Ringen mit den Naturgesetzen. Während das in den vergangenen Jahrhunderten Dinge waren, denen von der Zivilgesellschaft höchste Anerkennung und Bewunderung zu Teil wurde, hat sich die heutige Gesellschaft in ihrer Mehrheit von den Mühen und Qualen abgewandt und genießt nur noch die Ergebnisse dieser Tätigkeit. Nun, von niemandem wird verlangt, dass er die Gesetze der Wechselstromerzeugung beherrscht, wenn er das Licht einschaltet oder die Verfahren der digitalen Nachrichtenübermittlung verinnerlicht hat, wenn er telefoniert, aber ein bisschen mehr gesellschaftlich gezeigter Respekt wäre schon angebracht. Im TV wird der gut aussehende Arzt angehimmelt und anschließend der etwas vertrottelte Computerfreak lächerlich gemacht oder der junge Streber in der Schule, der zwar in Mathe eine 1 hat, über den die Mädchen aber kichern und die Jungen ihn wenn möglich auf dem Nachhauseweg verprügeln. Auf diese Weise schafft man es natürlich nicht, junge Menschen für ein Ingenieurstudium zu motivieren.

Betrachten wir mal einige menschliche Eigenschaften und beleuchten sie aus der Sicht des Ingenieurs. Fangen wir bei der Neugier an. Natürlich sind wir alle irgendwie neugierig, sofern die Befriedigung der Neugier aber mit Aufwand verbunden ist, wendet sich doch ein gewisser Teil unserer Mitmenschen wieder anderen Dingen zu. Aufwand wird oft gescheut, insbesondere auch dann, wenn er mit dem Erwerb und der Anwendung gewisser Kenntnisse unter Nutzung formaler, geistiger Methoden bzw. Handlungsvorschriften verbunden ist. Zu diesen geistigen Werkzeugen gehört u.a. die Mathematik. Man sollte die Mathematik also nicht nur gern betreiben sondern sie lieben, ja, lieben. Das ist natürlich für viele Mitbürger eine schreckliche Zumutung, weil sie im Laufe ihrer sozialen Entwicklung sehr oft Menschen, z.B. bestimmte „Kulturschaffende“ oder sogar Politiker erleben durften, die mit Ihrer Mathematik-Antipathie oder sogar -Phobie kokettieren, etwa in der Weise: Schaut mal, was aus mir geworden ist, obwohl ich in der Schule Mathematik nie leiden konnte. Das ist für Schüler oder auch Studenten natürlich ein verheerendes Vorbild. Warum soll man sich anstrengen? Man wird auch leichter berühmt. Die Medien zeigen hin und wieder auch den Mathe-Frick, aber wie schon gesagt, meist als weltfremden und verschrobenen Zeitgenossen. Also kein erstrebenswertes Vorbild. Die Krise bei der Besetzung der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) an den Hochschulen und Universitäten ist eine Folge dieser gesellschaftlichen Fehlentwicklung. Als ich vor einigen Jahren in den oberen Klassen von Gymnasien das Interesse für ein Ingenieurstudium wecken wollte, stand ich oft einer völlig desinteressierten Hörerschaft gegenüber. Viele Schüler spielten am Handy, zogen ihre Baseball-Kappen tiefer ins Gesicht und zeigten mir deutlich ihr Desinteresse. Hier muss man dann sehen, wie man ein für einen Gymnasiasten inakzeptables Verhalten ohne Beleidigungen abfängt. Jeder Lehrer kennt das, es ist Kreativität gefragt.

Das gilt auch für Ingenieure. Sie müssen kreativ sein. Unsere gesamte nicht-natürliche Umwelt ist von Ingenieuren über die Idee, die Entwicklung, Konstruktion und Fertigung bzw. Herstellung erzeugt worden. Kreativ bin ich auch, werden manche sagen, ich gestalte und bastle gern, arbeite im Haus und Garten mit vielen schönen und neuen Ideen. Natürlich ist auch jeder Künstler kreativ. Es ist die Voraussetzung für seine Tätigkeit, seine Berufung. Er unterscheidet sich aber doch in einem Punkt vom Ingenieur: Ein berühmter Schweizer Konstruktionswissenschaftler, Kesselring, hat auf die Frage, was „Konstruktion“ ist, sehr treffend und umfassend geantwortet: „Konstruktion ist die Synthese aus innerer Schau und äußerem Zwang“. Innere Schau darf hier mit „Idee“ übersetzt werden: welche Funktionen könnte z. B. das Produkt realisieren, wie soll es aussehen, wieviel darf es kosten usw. Wir stellen uns das alles in einer Imagination vor, von einer Realisierung sind wir aber noch weit entfernt. Jetzt kommt der „äußere Zwang“, die Regeln und Gesetze, die uns die Natur und die Gesellschaft bei der Umsetzung unserer Ideen auferlegen. Wir können z.B. nicht gegen die Physik konstruieren. Viele nicht naturwissenschaftlich Gebildete haben damit ein Problem, weil sie glauben, durch ideologisch motivierte Vorgaben diese Zwänge unterlaufen zu können. Schöne Beispiele sind die erzwungenen Maßnahmen der Energiewende, die Verteufelung von Kernkraft und Kohle und die daraus folgende zunehmende Instabilität von Netzen, die nur aus Windkraft und Solarstrom gespeist werden oder die illusionären Vorgaben für die Elektromobilität ohne Berücksichtigung der physikalischen Möglichkeiten einer akzeptablen, mobilen Speicherung von Elektroenergie, ganz abgesehen von der notwendigen aber fehlenden Infrastruktur für Elektro-Ladestationen oder die gegenwärtig unlauter geführte Diskussion zum Dieselmotor. Hier reicht schon ein kleiner Blick in die Tageszeitung, um zu erkennen, wie passende Argumente durch Weglassen oder Behauptungen erzeugt werden. Nein, Physik kann man nicht nach ideologischen Wünschen verbiegen. Von der Politik erwarten wir gesellschaftliche Visionen, wenn sie sich aber nicht an die existierenden Naturgesetze halten, wird daraus Zwang, der einer Demokratie fremd sein sollte. Ingenieure müssen also beides können, kreativ sein und sich bei der Realisierung ihrer Ideen strikt an physikalische, aber auch soziale oder ökonomische Gesetze halten.

Lassen Sie uns noch kurz über das Thema Invention, also Erfindung und Innovation, also Erneuerung reden. Industrienationen werden neben gewissen ökonomischen Kennziffern stets auch unter dem Gesichtspunkt der Zahl der eingereichten Erfindungen bewertet. Das Ranking zeigt das wissenschaftlich-technische Potential einer Gesellschaft und man erkennt zweifelsfrei jeden Aufschwung oder Niedergang. Die ostdeutschen Länder haben z. B. nach der Wende deutlich weniger Erfindungen angemeldet als Süddeutschland. Die Gründe mögen komplex sein, die Konsequenzen sind gravierend und zwar nicht nur für den Einzelnen, sondern für die gesamte Gesellschaft. Eine erfindungsfreie Zone führt zum industriellen Niedergang, zu Abhängigkeiten aller Art. Hier sind dann nicht nur die Ingenieure gefragt, sondern vor allem die Politik, die die richtigen Schwerpunkte und Förderungsmöglichkeiten setzen muss. Es ist verniedlichend, wenn der Erfinder in vielen Medien als „Tüftler“ dargestellt wird. Nein, Erfinder sind mutige, wenn deshalb auch oft einsame Menschen, die von einer Idee überzeugt sind und hart an ihrer Realisierung arbeiten. Wenn sie in einem Indus- trieunternehmen eingebettet sind, wird der Betrieb sie fördern, um von der Idee zu partizipieren.

Innovationen sind das tägliche Brot des Ingenieurs, sein eigentliches Betätigungsfeld. Bei jeder Idee, auch jedem Patent, gibt es immer etwas zu verbessern, zu optimieren, neu zu gestalten, an Bedürfnisse anzupassen. Innovationen müssen aber nicht im „Stundentakt“ erfolgen, wie es uns z. B. die Handyindustrie suggerieren will. Man kommt auch gut noch eine Weile mit dem alten Smartphone zurecht.

Innovationen sind aber nicht nur das Tagesgeschäft des Ingenieurs, sie haben auch Einzug in seine Werkzeuge gehalten. Anfangs die „Schülke-Tafel“, dann der Rechenschieber, dann der Taschenrechner. Mit zunehmender Integration der Mathematik in die Naturwissenschaften erleben wir eine revolutionäre Verbesserung der Ingenieurwerkzeuge. Dort, wo früher noch ein selbst geschriebenes Programm für den Computer eingesetzt werden musste, gibt es heute Entwicklungswerkzeuge, die bis dato völlig offene Fragen der Optimierung von Objekten bzw. Prozessen durch Modellierung und Simulation mit relativ geringem Zeitaufwand zu lösen gestatten. Hier ist der Weg in die Zukunft zwar sichtbar, das Ziel aber noch weitgehend unvorstellbar und offen. Was wird uns die künstliche Intelligenz bringen, welche Revolutionen werden durch das selbstfahrende Auto oder die prognostizierte digitale Vernetzung aller Lebensbereiche eingeleitet?

Nein, es ist völlig unverzeihlich, dass sich ein gewisser Teil der Gesellschaft bei derartigen revolutionären Prozessen im Ignorantentum einbettet und sich durch Vergnügungen aller Art einlullen lässt. Erinnern wir uns an den Aufbruchgeist der Renaissance. Lassen Sie uns an die Traditionen unserer Ingenieurleistungen anknüpfen. Hier müssen die jungen Leute aufwachen, mitwirken, mitgestalten, nicht nur alles Mögliche werden wollen, sondern vor allem auch Ingenieur. Auch, wenn dieser Wunsch mit vielfachen Entbehrungen verbunden sein wird. Der Technik-affine muss nur durchhalten, fleißig sein, Abstinenz erlernen und – wie ein Sportler – eine gewisse Härte gegen sich selbst aufbringen können. Aber es lohnt sich, nicht nur finanziell. Der Ingenieur wird vielfach belohnt, nicht nur durch die intellektuelle Herausforderung und die Genugtuung nach der Problemlösung, sondern vielfach auch durch ein euphorisches Glücksgefühl, wie es jeder Mensch nach der Bewältigung großer Schwierigkeiten empfindet. „Heureka, ich habe es gefunden“, kann er dann rufen wie einst Archimedes von Syrakus, der vor ca. 2.200 Jahren in der Badewanne das Auftriebsprinzip entdeckte.

Vieleicht kann der eine oder andere, sowohl der im Beruf stehende als auch der Lernende, mit dem hier gezeichneten Personenbild des Ingenieurs etwas anfangen, sich fragen, ob er die Eigenschaften besitzt, die eine solche Tätigkeit erfordert oder sie erwerben möchte. Ich denke, sobald sich unsere techniknutzende aber leider trotzdem technikfeindliche Gesellschaft wieder auf die Wurzeln ihres Wohlstandes besinnt, wird der Ingenieur erneut zu einem begehrten Beruf werden. Prof. Dr.-Ing. habil. Viktor Otte

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