Sommer Flucht

Tok, tok, tok … Von all den Geräuschen, die die mittägliche Hitze durchrissen, schien mir das leiseste am stärksten an den Nerven zu zerren. Tok. Tok. Tok. Auch böse Blicke in Richtung des Nachbartischs halfen nicht, den Herrn im Anzug zum Aufhören zu bewegen. Tok. TOK. TOK! Unentwegt klopfte er mit dem Eingabestift seines Tablets auf einem fleckigen Bierdeckel herum, während er zum Scrollen, Wischen und Tippen seine Finger nutzte. Tok. Tok! Ein Anruf … Das Klopfen verstummte. Zufriedenheit stellte sich für einen kurzen Augenblick ein und wurde sofort wieder von sich anstauender Wut verdrängt. Das Telefonat – lauter hätte man es nicht führen können! Ich war mir sicher, dass selbst die Fahrgäste in der vorüberrumpelnden Straßenbahn verstehen konnten, welche Worte der Schnösel in das waagerecht vor sein Gesicht gehaltene Smartphone donnerte.

Tief einatmen … ausatmen. Immer und immer wieder versuchte ich, die Geräuschkulisse zu ignorieren. Meine Ohren gegen den durch die Stadt wabernden Lärm zu verschließen. Das dumpfe Gemurmel vorüberfahrender Autos und über die Gehwege eilender Passanten durchzog wie zäher Nebel die Straßen. Keine Sekunde verstummte die Kakophonie. Das Handy – rastlos vor mir liegend – vibrierte in freudigem Empfang unzähliger Nachrichten, Fotos und Videos. In der Ferne hämmerte ein Bass gegen das urbane Getöse an. Und als wolle die Stadt zeigen, wer hier die Oberhand hat, schickte sie erneut eine Straßenbahn polternd über die Gleise. Ihr langes, schrilles Klingeln vermischte sich mit dem lauten Hupen eines Lieferwagens, während der Mann im Anzug am Nebentisch die Fassung verlor und in sein Telefon schrie.

Einatmen … ausatmen. Ich schloss die Augen und vermied es trotz unzähliger Anreize, sie in den nächsten Sekunden, ja Minuten zu öffnen. Das gleißende Sonnenlicht, das sich zuvor durch meinen Kopf gebohrt und scheinbar Schmorspuren auf dem Scheitelbein hinterlassen hatte, verlor seine schmerzhafte Wirkung, wurde milder. Auch die Kakophonie schien sich langsam von mir zu entfernen. Oder ich mich von ihr? Die Geräuschkulisse wurde allmählich erträglicher. Als hätte die Welt mich in zähflüssiges Harz gehüllt, schmolz das Hupen, Rattern, Klopfen, Brummen, Blubbern, Schreien, Johlen, Klingeln und Piepen zu einem betäubten Grundton, bis es komplett in einer lautlosen Blase konserviert wurde.

Einatmen. Stille. Ausatmen. Ich öffnete erneut die Augen und fand einen Großteil der Umgebung zu Bernstein erstarrt. Über mir wölbte sich der noch stahlblaue Himmel wie eine mit milchig-weißen Streifen durchzogene Schale aus Murano-Glas. Doch am Rande dieser Schale schien die Sonne ein allerletztes Mal untergehen zu wollen – so lange zögerte sie ihren Abschied hinaus. Vielleicht versuchte sie dieses Ableben gänzlich zu verhindern und tauchte deshalb die Landschaft für eine Ewigkeit in flammendes Orange. Das Ufer verschwamm in feuergetönten geometrischen Formen. Selbst den See unter mir hatte die Sonne bereits infiziert. In surreal warmen Farben schwappten kleine Wellen gegen das blau-weiße Board, das mich am Untergehen hinderte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch der Himmel von diesem glühenden Lavastrom erfasst wurde.

Einatmen. Kleine Wellen versetzten das Board in eine sanft schaukelnde Bewegung. Ausatmen. Gedämpft drangen Geräusche an mein Ohr. So unauffällig und dumpf, dass ich nicht ausmachen konnte, woher sie kommen oder welchen Ursprung sie haben. Und es war mir egal. Es interessierte mich nicht. Weder das ferne Gemurmel noch das weiterhin in gewissen Abständen vibrierende Smartphone, das blinkend neben mir lag. Ich war zufrieden … entspannt … erleichtert. Kein Kätzchen-Video, kein Lifestyle-Tipp, keine Wie-werde-ich-super-glücklich-Anleitung, keine 20-Orte-die-du-gesehen-haben-musst-Liste wür-de dieses Gefühl jemals hervorrufen können.

Einatmen. Ich gab dem ach so schlauen Telefon einen Stups mit dem Finger. Ausatmen. Langsam, wie ein vom Wind getragenes Blatt, schwebte es durch das Wasser. Mit jedem Zentimeter, den das Smartphone weiter hinunterglitt, wuchs die Zufriedenheit … Erleichterung … Entspannung. Für eine Weile sah ich ihm hinterher, bis es – noch immer blinkend – in der tiefen Dunkelheit des Sees verschwand. Unerreichbar. Funk-Stille. Die Mundwinkel zuckten, verformten sich zu einem Lächeln, als ich mir vorstellen musste, wie ein Karpfen sich an einem Selfie versucht. Immer und immer wieder – bis er einigermaßen glücklich damit ist. Schnell das Bild noch bearbeiten, mit einem Vintage-Filter versehen und schon „geht es viral“. Wie viele „Likes“ würde er von anderen Fischen bekommen? Würden die Algen sein Foto teilen? All das war egal …

Einatmen. Ausatmen. Ich blickte mich um und wartete, dass die Sonne ihren Kampf gegen den Untergang aufgab. Das zärtliche Schaukeln war kaum noch zu spüren und inzwischen war auch das verhaltene Gemurmel nicht mehr zu vernehmen. Allmählich wurde es kühler. Der eben noch glühenden Lava entwich sämtliches orangefarbenes Leuchten. Die Welt war zu Basalt erstarrt. Und ich schloss beruhigt meine Augen. Tina Heinz

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